Herr Theunert, Sie gehen in Ihrem Buch der Frage nach, wie Mannsein im Jahr 2023 gelingen kann. Was denken Sie, wenn Sie einen Mann wie Luis Rubiales sehen, der als spanischer Fußballpräsident die Spielerin Jennifer Hermoso bei der Siegerehrung nach dem WM-Finale gegen ihren Willen auf den Mund geküsst hat?
Markus Theunert: Luis Rubiales ist für mich ein sehr anschauliches Beispiel für einen tragischen Mann.
Warum?
Er ist ein Mann, der noch nicht gemerkt hat, dass sich die Zeiten verändert haben. Der nicht reflektiert hat, dass diese chauvinistische Ich-nehme-mir-was-ich-will-Haltung grenzverletzend ist. Der darauf beharrt, seinem ersten Impuls folgen zu dürfen. Dazu passt auch seine beleidigte und bockige Reaktion hinterher.
Er hat sich lange gegen einen Rücktritt gewehrt.
Dabei hätte er das Problem erledigen können, wenn er sich am nächsten Tag hingestellt und gesagt hätte: „Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Es tut mir so leid, ich bitte um Verzeihung.“ Wenn er das ernstgemeint hätte, hätten alle gesagt: Okay, er hat etwas gelernt. Er hat seinen Mann gestanden, indem er seinen Fehler anerkannt hat.
Es hat Stimmen wie die von Karl-Heinz Rummenigge gegeben, der über den Kuss gesagt hat, Rubiales' Handlung sei, Zitat, „absolut okay“ gewesen. Männer wie Rubiales stehen offenbar nicht allein.
Das habe ich anders wahrgenommen. Rummenigge war, so wie ich die Diskussion verfolgt habe, die einzige prominente Stimme, die pro Rubiales gesprochen hat, vielleicht noch Oliver Pocher ein wenig, der sich halb humoristisch geäußert hat. Aber das war’s. Daran wird schon deutlich, dass die Gesellschaft sich entwickelt. Solche Übergriffigkeiten wie die von Rubiales werden nicht mehr akzeptiert.

Ein Kuss, der um die Welt ging: Spaniens Fußballpräsident Luis Rubiales küsst Weltmeisterin Jennifer Hermoso gegen ihren Willen auf den Mund.
Wie geht es Ihnen selbst als Mann im Jahr 2023?
Ich glaube, dass ich in diesem Punkt einen Vorteil gegenüber meinen Geschlechtsgenossen habe, weil ich mich beruflich mit der Frage nach dem Mannsein auseinandersetze. Deshalb habe ich mehr Orientierung, um mich zwischen all den sehr widersprüchlichen Anforderungen zurechtfinden zu können.
Was ist so widersprüchlich am Mannsein heute?
Männer sollen wie früher leistungsstarker Ernährer und neu auch einfühlsamer Vater und emotional kompetenter Ehemann sein. Männer sollen stark sein und Gefühle zeigen. Das Männerbild hat sich nicht im Kern verändert. Es kommen bloß zusätzliche Anforderungen hinzu. In diesem Spannungsfeld fühlen sich viele verloren. Das geht mir nicht anders. Die Work-Life-Balance ist ein Riesenthema für mich. Der Versuch, in der Erwerbsarbeit Leistung zu bringen und zu Hause präsent zu sein, fordert mich total. Zeit für mich zu finden, Sport und Freunde nicht zu vernachlässigen, das ist für mich eine Riesenherausforderung, die mir nicht wirklich gelingt. Aber ich will mich auch gar nicht als Rollenmodell positionieren. Für mich geht es eher um ein lustvolles Scheitern.
Was meinen Sie damit?
Die Befreiung zu wissen, dass ich eh nicht allen Anforderungen gerecht werden kann. Daraus kann ich eine gewisse Leichtigkeit ziehen und sagen: Ich gebe mein Bestes, und das ist gut genug.
Können Sie sagen, wie viele Männer an ihrem Mannsein leiden?
Es ist eine Minderheit, die es so bezeichnet: Leiden am Mannsein. Aber es ist eine Mehrheit, die in diesem Orientierungsvakuum steckt. Eine Mehrheit, die nicht weiß, wie sie auf eine gute Art Mann sein kann. Ich erlebe bei diesen Männern Wut, Resignation, Unbehagen. Diejenigen, die Männeremanzipation als Chance, als gesellschaftlichen Gestaltungsraum erkennen, sind die Minderheit.
Wie definieren Sie, auf „gute Art“ Mann zu sein?
Die gesellschaftlichen Erwartungen sind da sehr klar formuliert: Vom modernen Mann wird erwartet, dass er sich abgrenzt von jeglicher Übergriffigkeit, dass er gewaltfrei agiert und kommuniziert, dass er Sorge trägt für sich und sein Umfeld, dass er soziale Kompetenzen entwickelt. Gleichzeitig lassen wir die Männer komplett im Stich, wenn es darum geht, ihnen zu zeigen, wie sie den Weg dorthin finden können. Es gibt kaum Unterstützung, wenig Beratungsangebote und Hilfestellungen. Jungenpädagogik, Männerbildung und Väterberatung sind noch lange keine Selbstverständlichkeit. Dabei ist es doch eine historische Herausforderung, in Würde vom Sockel des Patriarchats herunterzusteigen.
Die Frage „Wann ist ein Mann ein Mann?“ hat sich Herbert Grönemeyer schon in den 1980er-Jahren gestellt. Er hat gesungen: „Männer nehm‘ in den Arm, Männer geben Geborgenheit, Männer weinen heimlich, Männer brauchen viel Zärtlichkeit“. Was hat sich seitdem verändert?
Grönemeyers Song „Männer“ war zeitdiagnostisch sehr hellsichtig, das muss man schon sagen. Die Widersprüchlichkeit ist tatsächlich geblieben. Was weniger geworden ist, ist der Zwang, genauso Mann zu sein, wie es traditionell einmal vorgesehen war. Da haben sich die Leitplanken erweitert. Es gibt heute mehr Erkundungsräume, die Männern zugestanden werden.
Woran machen Sie das fest?
Bei der Altersgruppe der U 35-Männer hat sich etwas verändert, was zum Beispiel den Geschlechtsausdruck angeht. Männer tragen heute selbstverständlicher bunte Kleidung, schminken sich, lackieren sich die Nägel. Da ist es spielerischer geworden. Das heißt aber nicht, dass die Jungen heute schon nachhaltige Männlichkeit leben. Auch in der jüngeren Generation halten sich viele traditionelle Männlichkeitszuschreibungen.
Wie aufgeschlossen sind die Männer denn überhaupt für eine nachhaltige Männlichkeit?
„Die Männer“ gibt es nicht. Aus verschiedenen Umfragen können wir eine Dreiteilung der männlichen Bevölkerung herleiten. Es gibt das progressive Drittel, das in Gleichstellung und männlicher Emanzipation eine Chance sieht. Dem gegenüber steht ein zweites Drittel, das aus dem konservativ-traditionalistisch-regressiven Milieu kommt und sagt: Wir wollen zurück zu den Klarheiten von früher, zu den traditionellen Männlich- und Weiblichkeiten. Die Natur hat es so vorgesehen, dass Männer das Geld nach Hause bringen und die Frauen sich kümmern.
Und das letzte Drittel?
Das ist die Mitte, und das ist das aus meiner Sicht das entscheidende Drittel. Männer, die sich rhetorisch modernisiert haben, die sagen: „Natürlich ist Gleichstellung eine gute Sache.“ Männer, die sagen: „Ich verstehe es auch als meine Aufgabe, Frauen zu fördern.“ Diese Männer bleiben im eigenen Lebensvollzug aber oft sehr traditionell. Also sie helfen der Frau zwar, erwarten aber, dass sie weiterhin die Hauptlast der Familienarbeit trägt, nach dem Motto: Sie hat zu Hause die Verantwortung, und ich unterstütze sie dabei. Ich fürchte, diese Gruppe wird zusehends anfällig für unterkomplexe Parolen von rechts, für Sätze wie „Männer müssen wieder Männer sein dürfen“.
Wie groß ist die Gefahr, dass diese Mitte nach rechts driftet?
Ich stelle fest, dass es wieder salonfähiger geworden ist, chauvinistische Männlichkeitsvorstellungen zu äußern. Die entscheidende Frage ist: Grenzt sich die Mitte davon ab? Damit die Männer aus der Mitte das können, müssen wir ihnen Brücken bauen. Nicht missverstehen: Wir müssen sie nicht bedauern und auch nicht fürs Engagement loben. Aber wir müssen aufhören, männliche Reflexion als Jammern oder Rumheulerei zu denunzieren. Wir müssen sie ermutigen, mit den Widersprüchen und den Spannungsfeldern dieser Zeit einen fairen Umgang zu finden.
Sie bieten in Ihrem Buch Hilfe an. „Ein Kompass für Männer von heute“ heißt es im Untertitel. Darin schreiben Sie unter anderem, dass Männer ihre Privilegien erkennen und bewusst damit umgehen sollen. Was meinen Sie damit?
Es gibt ein Privileg, das alle weißen, heterosexuellen, erwerbstätigen Männer haben, nämlich die Illusion, der Mittelpunkt der Gesellschaft zu sein. Sie sind die Norm. Das stärkste Privileg besteht darin, sich nicht rechtfertigen, ängstigen oder anpassen zu müssen. Sie müssen zum Beispiel keine Sorge haben, dass das Medikament, das sie schlucken, für sie schädlich ist, denn sie können sich darauf verlassen, dass es an ihnen vergleichbaren Personen – der männlichen Norm – getestet worden ist.

"Ich sprüh's an jede Wand: Neue Männer braucht das Land", sang Ina Deter Anfang der 1980er-Jahre.
Diese Männer sind nicht nur die Norm, sondern auch die Mehrheit in der männlichen Hälfte der Gesellschaft.
Das stimmt zwar statistisch, aber dennoch bilden sie bloß eine von vielen Gruppen im männlichen Bevölkerungsganzen. Diese Einsicht ist das Eintrittsticket, um schöpferisch mit Männlichkeit umgehen zu können. Wenn ich erkenne, dass ich in meinem Mannsein frei bin, wie ich mich auf gesellschaftliche Männlichkeitsanforderungen beziehe, kann ich mich als Mann neu erfinden.
Dazu passt ein Rat aus Ihrem Buch. Er lautet: „Bring so viel Sinnlichkeit in den Alltag, wie es eben nur geht“. Warum ist Sinnlichkeit wichtig?
Männliche Sozialisation fördert, dass wir angeblich unmännliche Gefühle nicht wahrnehmen, zum Beispiel Schwäche, Trauer, Ohnmacht, Hilflosigkeit. Das führt dazu, dass wir verlernen, nicht nur diese Gefühle, sondern alle möglichen Empfindungen zu spüren. Diesen Prozess müssen wir umkehren.
Wie geht das?
Wie im Sport. Trainieren und immer besser werden. Wir können an der Bushaltestelle stehen und anstatt ins Handy zu schauen, bewusst die Sonnenstrahlen auf der Haut oder den Wind auf der Wange spüren. Oder bei der Arbeit: mal fünf Sekunden Pause machen und sich fragen, was ich gerade spüre. Tut mir der Rücken vom Sitzen weh? Sollte ich kurz aufstehen und mich strecken? Es geht darum, für sich selbst zu sorgen. Wir haben das Instrumentarium dafür bei uns, nutzen wir es doch! Spüren erfüllt, Spüren schafft Verbindung. Die meisten Männer haben Heimweh nach sich selbst. Spüren ist der Wegweiser nach Hause.
Sie formulieren, dass Männer ihrem Konsumverhalten Grenzen setzen sollen, dass sie Gefühle zulassen und Schwäche zeigen sollen…
…so wie Sie es zusammenfassen, hört sich das an, als sollten alle Männer Softies werden. Aber so meine ich das nicht. Ich möchte Männer nicht auffordern, „wie Frauen zu werden“, sondern ganze Menschen. Jeder Mann lernt, das zu unterlassen, was die Gefahr mit sich bringt, von anderen Männern nicht als „richtiger Kerl“ anerkannt zu werden. Auf diese Weise geht uns aber ganz viel verloren, weil wir uns etwas verbieten. Meine Aufforderung ist: Lasst uns ausloten, was es noch zu entdecken gibt. Das, was ich beschreibe, macht Männer stark, kantig, gibt Halt.
Wie wirkt das auf Frauen?
Eine Mehrheit der Männer denkt: Frauen wollen einen traditionellen Mann. Das stimmt aber nicht. Die Mehrheit der Frauen wünscht sich ganzheitliche Männer. Männer, die in Verbindung zu sich selbst stehen, die nicht abhängig sind von weiblicher Fürsorge und weiblichem Zuspruch, die für sich selbst sorgen können, selbst in der Lage sind, Freundschaften zu pflegen. Die Mehrheit der Frauen will den verbundenen Mann, der mit sich und der Umwelt in gutem Kontakt ist.
Das Gespräch führte Marc Hagedorn.