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Gerda Engelbracht stellt Forschungen zum „St.-Petri-Waisenhaus 1933-1945“ vor Nazis selektierten nach Verwertbarkeit

Osterholz. Die diakonische Jugendhilfe in Bremen und das Diakonische Werk bemühen sich mit Unterstützung der Bremischen Evangelischen Kirche um Aufarbeitung der Arbeit in ihren Einrichtungen während der Nazi-Herrschaft. Bereits 2016 wurden Ziele der Erforschung alter Dokumente und Akten benannt.
28.08.2017, 00:00 Uhr
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Von EDWIN PLATT

Osterholz. Die diakonische Jugendhilfe in Bremen und das Diakonische Werk bemühen sich mit Unterstützung der Bremischen Evangelischen Kirche um Aufarbeitung der Arbeit in ihren Einrichtungen während der Nazi-Herrschaft. Bereits 2016 wurden Ziele der Erforschung alter Dokumente und Akten benannt. Gerda Engelbracht, renommierte Bremer Historikerin und Kulturwissenschaftlerin, stellte nun, als einen Teil umfangreicherer Forschungen, neue Ergebnisse im Vortrag „St.-Petri-Waisenhaus 1933 – 1945“ in der Einrichtung in Osterholz vor.

Gerda Engelbracht hat 788 Bewohnerakten des Archivs St. Petri aus den Jahren 1933 bis 1945 gesichtet und ausgewertet, zudem zog sie Bewohnerkarteien heran. Besondere Beachtung legte sie auf Wege der Bewohner mit Entlassungen und Verlegungen, auf Umgang und Unterstützung, Erziehung und Gewalt, Ausgrenzung, Erbkrankheiten und Sterilisation und den Anstaltsalltag im Nationalsozialismus.

Engelbracht, die auch Autorin zahlreicher historischer Werke ist, reihte nicht Fakten und Zahlenwerke aneinander, sondern zeigte insbesondere das Wirken der Anstaltsleiter Johann Klüsing (1933-1940) und Wilhelm Dresen (1940-1947) und exemplarisch Biografien der Bewohner Selmar Störmer, Hans Schlos und Franz A. auf.

St. Petri-Beschäftigte interessierten sich für den Vortrag ebenso wie die Beiratsmitglieder Christine und Wolfgang Haase, Pastorin Inge Kuschnerus, Jürgen Stein vom Diakonischen Werk und auch ein Zeitzeuge und Bewohner der Zeit 1943 bis 1945 des St. Petri Waisenhauses.

Bernd Schmitt, Geschäftsführer der St. Petri Kinder- und Jugendhilfe, betont in seinen Begrüßungsworten, dass die geschichtliche Aufarbeitung zum Beispiel im heutigen Beschwerdemanagement für die jungen Bewohner Auswirkungen hat.

Gerda Engelbracht spekuliert als Historikerin nicht über sexuelle Gewalt oder überzogenen Arbeitsumfang oder Hunger der Bewohner, nicht über alltägliche Repressalien und psychischen wie physischen Druck, sie nennt nur, was in den Akten der Leitung mit Parteibuch selbst dokumentiert ist. Und das macht schnell deutlich: Eine humane und wohltätige Einrichtung wie das St.-Petri-Waisenhaus passte nicht zu den gesellschaftlich vorgegebenen Zielen der Nationalsozialisten.

Beiden Leitern, Johann Klüsing wie Wilhelm Dresen, half das Parteibuch in ihre Position, nicht die pädagogische Qualifikation, für die beide keine Ausbildung hatten. Die Kinder und Jugendlichen, gesund, mit körperlichen Schwächen, leistungsgemindert, Kinder armer Menschen oder Kinder alleinerziehender Frauen, die ihnen weggenommen wurden, wurden nach Verwertbarkeit selektiert.

Das St.-Petri-Waisenhaus war vor der NS-Herrschaft am Rande Bremens gebaut worden, um durch Landwirtschaft den Selbsterhalt zu unterstützen. Von 1936 datiert der Erlass des Jugendamtes, wonach Minderwertige aus Bremen Aufnahme finden sollten und nach Verwertbarkeit zu ordnen waren. Demzufolge war Arbeitskraft der Bewohner das entscheidende Kriterium für ihren Verbleib oder ihre Verlegungen, die behördlich angeordnet wurden. 1941 erreichte das Waisenhaus seine Höchstbelegung mit 95 Bewohnern.

Deutschland war von den Nationalsozialisten kartografisch in Gebiete mit bestimmten Anzahlen von Heimplätzen aufgeteilt. Bremen war eines von drei Gebieten, die keinen Heimplatz haben sollten. Stattdessen war vorgesehen, die Bewohner nach Rostock in Werftarbeit zu überweisen. Der ehemalige Hilfsschullehrer Klüsing, der bereits unehrenhaft aus einer Heimleitung entlassen worden war, wurde mit Parteibuch Leiter des St.-Petri-Waisenhauses. Sein Vorgesetzter war ein reicher Bremer Kaufmann, ebenso mit Parteibuch. Klüsing muss Behörden gegenüber Rechenschaft ablegen, warum er eine Weihnachtsfeier wollte, statt der in Heimen üblichen Sonnwendfeier. Die Behörden überwachten seine Leitung rassenbiologisch. Eingeteilt wurden Bewohner in gesund und krank, in arisch und nicht arisch. Der ehemalige Sinn der Volkswohlfahrt und Wohltätigkeit stand nur noch im Wege.

Das Bremer Jugendamt wollte alle Erbgesunden von Minderwertigen trennen, damit konnten Ausgaben für Heime drastisch gesenkt werden. Kinder, die gestohlen haben, Kinder lediger Mütter, Kinder, die kleinerer Vergehen beschuldigt wurden, kamen ins Heim, wurden abgewertet und ausgegrenzt. Sechs bis zwölf Betten zeigen historische Fotos in Räumen, die kein Bild ziert, die keinen Tisch, keinen Schrank haben. Der Diebstahl einer Mohrrübe, dokumentieren Akten, wurde mit sechs Stockhieben quittiert. Alle Bremer Schüler eines letzten Jahrgangs der Hilfsschulen mussten dem Jugendamt gemeldet werden. Zwangssterilisationen waren eine Folge für die Gemeldeten.

800 Kinder waren zwischen 1933 und 1945 im St.-Petri-Waisenhaus. 107 wurden verlegt, was Lebensgefahr bedeutete. Der Hungererlass in Bayern besagte, dass nicht arbeitenden oder weniger arbeitenden Bewohnern das Essen rationiert wurde. Der damalige Bewohner Selmar Störmer kam nach der Station im St.-Petri-Waisenhaus in die Bremer Nervenklinik, wo er nach Feldarbeit zum Hausarbeiter des Abteilungsarztes befördert wurde, bevor man ihn infolge eines Fluchtversuchs in die Anstalt Hadamar in Hessen verlegte. Dort wurden zwischen 1940 und 1945 nahezu 15 000 Menschen ermordet.

Johann Klüsing bezahlte, in Ausnahmen und aus eigener Tasche, Jugendlichen die Reisekosten für einen Besuch ihrer Eltern. 77 Jugendliche kamen von St. Petri in das Knaben-Erziehungsheim Ellener Hof. Sie galten als unerziehbar, wertlos, ihr Erbgut als schädlich. Über einen Neunjährigen steht in seiner Akte: „Ein wenig erfreuliches Blutgemisch. Ein Bastard, in dem sich die negativen Erbanlagen der Mutter mit den negativen Erbanlagen des Vaters mischen. Die Volksmasse muss vor ihm geschützt werden.“ Im Alter von 17 Jahren nahm sich der so Beschriebene das Leben.

Der ehemalige Bewohner im Publikum berichtet nach dem Vortrag in der Fragerunde, er habe ständig Hunger gelitten. Eines Winters habe er einen ganzen Schuppen nach seiner Arbeit zu Brennholz gesägt und dafür an einigen Tagen je eine Mohrrübe bekommen. Ein Mitbewohner, der Bettnässer war, habe sich eine dicke Baumscheibe ins Bett gelegt und darauf geschlafen, in der Hoffnung, dass sein Urin dadurch nicht ins Bett abfließen würde, wofür es immer Stockhiebe gab.

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