Bremen Stadtteile Osterholz Verden Diepholz Delmenhorst Wesermarsch Oldenburg Rotenburg Cuxhaven Bremerhaven Niedersachsen

Serie "Mein Kiez" So lebt es sich in der Bremer Neustadt: "Hier pulsiert das Leben"

Bremerinnen und Bremer führen in dieser neuen Serie Leser des WESER-KURIER durch ihre Straßen, ihre Lieblingsorte – durch ihren Kiez. Heute: Sonja Mittag aus dem Stadtteil Neustadt.
09.11.2024, 05:00 Uhr
Jetzt kommentieren!
Zur Merkliste
Von Ragna Herzog

Es ist ein typisch Bremer Schmuddelwetter-Tag: Nicht enden wollender Nieselregen und ein grau-verhangener Wolkenhimmel, als wir Sonja Mittag in der Straße am Deich unter den großen Platanen treffen. Das einzig Bunte an diesem Tag sind die verfärbten Blätter der Bäume und der pinke Regenschirm der 52-Jährigen. Den braucht sie bei diesem Wetter auch, denn sie will uns ihren Kiez, ihren Stadtteil, bei einem Spaziergang vorstellen: die Neustadt.

„Hier an der kleinen Weser ist es im Sommer – dank der Platanen – herrlich schattig und sehr angenehm zu sitzen“, sagt Sonja Mittag. Seit Jahren, so erzählt sie, gäbe es einen Streit zwischen Platanen-Schützern und der Stadt Bremen, ob die großen Bäume bleiben dürfen oder abgeholzt werden. „Ich hoffe, dass die Platanen bleiben dürfen“, sagt Mittag. „Denn ich bin im Sommer oft hier und lasse entspannt den Feierabend ausklingen.

Ein Stück weiter, Brautstraße Ecke Osterstraße, zeigt sie auf ein Eck-Gebäude: „In diesem Haus befand sich die Kneipe von Friedrich Ebert“, erzählt die 52-Jährige. Der Sozialdemokrat führte sein Ladenlokal „Zur guten Hilfe“ ab 1894. „Hier gab es um die Jahrhundertwende viele politische Treffen und Diskussionen“, erzählt Sonja Mittag, die ihren Lebensunterhalt als Stadtführerin in Bremen verdient. Mehrmals die Woche zeigt die studierte Architektin Touristen und Interessierten die Stadt Bremen. „Das macht mir einfach sehr viel Spaß und ich bin immer an der frischen Luft“, sagt die gebürtige Duisburgerin. In der Bremer Neustadt lebt sie seit 20 Jahren.

„Meinen jetzigen Beruf verdanke ich meinem alten Architektur-Professor“, erklärt Sonja Mittag. „Er ist mit den Studenten immer raus gegangen und hat anhand der Gebäude die Kunstgeschichte und Architektur erklärt“, berichtet sie. „Ich fand diese Arbeitsatmosphäre so toll – immer an der frischen Luft und unterwegs.“ Er habe sie mit seinen Impulsvorträgen direkt erreicht. „Und deswegen habe ich auch nicht weiter als Architektin gearbeitet.“ Neben Stadtführungen bietet sie auch kulinarische Führungen in Bremer Stadtteilen an. Unter dem Motto „Eat the world“ werden innerhalb der Tour sechs unterschiedliche kulinarische Stationen besucht. „Das ist auch etwas ganz Besonderes“, sagt sie.

Wir überqueren die Osterstraße und kommen auf einen kleinen Marktplatz. „Hier finden wir meinen kulinarischen Geheimtipp“, sagt Sonja Mittag und steuert direkt auf ein kleines Lokal zu – das Café am neuen Markt. „Hier gibt es unglaublich leckere Pizzen, die so groß sind wie ein Wagenrad. Mein Tipp: man sollte sich zuerst eine Pizza zu zweit bestellen“, sagt sie. „Denn sie sind so groß, dass es manchmal schwer ist, sie allein aufzuessen.“ An lauen Abenden sei es auch im Biergarten des Cafés direkt auf dem Marktplatz sehr einladend.

„Und hier sehen wird den kleinen Roland“, erzählt Sonja Mittag und zeigt mit leuchtenden Augen in die Höhe. Oben auf einem kleinen, steinernen Brunnen, steht tatsächlich der Roland in Miniaturausgabe. „Ich finde, er ist viel hübscher als der große Roland in der Innenstadt“, sagt sie. „Dieser hier ist mit goldenen Verzierungen versehen und außerdem sieht er nicht so mager, sondern richtig moppelig aus.“ Dass, so erzählt sie, sei den damaligen gesellschaftlichen Schönheitsidealen zu verdanken. „Wo heute ein Porsche als Statussymbol dient, war es früher ein gut genährter Körper." 1737 entstand der Roland-Brunnen. Es wird vermutet, dass ihn der Bildhauer Theophilus Wilhelm Frese in seiner Bildhauerwerkstatt erschaffen hat.

Über die kleine Annenstraße, die Rückertstraße und den Leibnizplatz erreichen wir den Buntentorsteinweg. Sonja Mittag schwärmt: „Es gibt so unglaublich schöne Altbremer Häuser in der Neustadt“, sagt sie. „Aber nicht nur das – es hat sich in den letzten Jahrzehnten eine enorm vielfältige Kulturszene entwickelt, die wirklich Spaß macht.“

Dann bleibt sie stehen. „Hier ist das Kukoon“, sagt sie und zeigt auf die hölzerne Eingangstür. „Ein Kulturprojekt der besonderen Art, von denen es in der Neustadt viele zu entdecken gilt.“ Jeder Mitarbeiter, ob Putzfrau, Geschäftsführer, Koch oder Servicekraft würde das gleiche Geld verdienen, da es sich um ein Kollektiv handele. „Außerdem finden hier regelmäßig interessante Veranstaltungen statt. Lesungen, Vorträge und auch Konzerte.“ Der alternativ eingerichtete Gastraum erinnert an die Gemütlichkeit eines privaten Wohnzimmers. „Toll ist auch, dass es hier keinen Verzehrzwang gibt“, sagt Sonja Mittag. „Da wird nicht gedrängelt, dass man das Lokal verlassen soll, weil man nichts bestellt hat.“

Wir gehen weiter in Richtung Kattenturm und bleiben vor einem kleinen Café direkt am Friedhof stehen – das „Radieschen – das Café der Erinnerungen“. Hier werden alte Kuchenrezepte von den Großeltern gesammelt und gebacken. Auch Gerichte, die es bereits bei Oma und Opa gab – wie Pellkartoffeln, Käsespätzle oder Senfeier – stehen im Radieschen regelmäßig auf der Speisekarte. Die Einrichtung ist bunt und wirkt lebensbejahend fröhlich. „Das Konzept, dass sich die Pächterin ausgedacht hat, finde ich sehr ansprechend“, sagt Sonja Mittag. Der Name sei der Nähe zum Friedhof zu verdanken: „Sich die Radieschen von unten angucken“. Auf den Tischen liegen feine Leinen-Tisch- und Häkeldeckchen. „Außerdem gibt es eine kleine Leseecke für Kinder“, so Mittag. „Und alle Bücher beschäftigen sich mit dem Thema Tod.“

Wir überqueren den Buntentorsteinweg und erreichen über eine kleine Treppe das Naherholungsgebiet Werdersee. „Ich finde es großartig, dass man diesen Flecken Natur einfach fußläufig erreichen kann“, sagt Sonja Mittag. Sie selbst sei sehr oft am Werdersee. „Es ist im Sommer zwar nicht mehr so leer wie noch vor einigen Jahren, aber man findet immer ein ruhiges Fleckchen, wenn man seine Ruhe haben möchte.“ Einfach auf das Wasser zu blicken und mitten in der Natur zu sitzen, würde sie im Sommer oft genießen.

Sonja Mittag ist mit dem Stadtteil, in dem sie lebt, sehr zufrieden. „Die Neustadt ist bunt und die Menschen sind hilfsbereit“, sagt sie. Erst kürzlich sei in einem ganzen Wohnblock das Gas abgestellt worden. „In kurzer Zeit und ohne viel Bürokratie haben die Menschen eine Hilfsaktion ins Leben gerufen“, erzählt sie. Es habe nur ein paar Stunden gedauert und schon seien die Betroffenen mit Gas-Campingkochern versorgt gewesen. „Und das macht die Bewohner der Neustadt einfach aus.“

Lesen Sie auch

Es sei ein buntes Miteinander. „Außerdem kann ich hier alles erleben, was ich in meiner Freizeit erleben möchte. Vom Wassersport am Werdersee über Kulturveranstaltungen bis hin zu individuellen Einkaufsmöglichkeiten – in der Neustadt ist all das vorhanden.“ Außerdem, so fügt sie hinzu, sei alles fußläufig erreichbar. „Ein weiterer Vorteil, da ich gar kein Auto habe.“

Früher habe es geheißen, man fahre in die falsche Richtung, wenn man am Freitagabend über die Wilhelm-Kaisen-Brücke Richtung Neustadt und nicht ins Viertel gefahren sei. „Heute ist das genau umgekehrt“, meint sie. Besonders kulturell habe sich sehr viel getan: „Ich bin mit Stadtteil total zufrieden“, sagt Sonja Mittag, die es sich nicht vorstellen kann, woanders hinzuziehen. „Vor 30 Jahren war die Neustadt vielleicht ein günstiges Arbeiterviertel“, sagt sie. „Doch heute pulsiert hier das Leben.“

Lesen Sie auch

Zur Startseite
Mehr zum Thema

Das könnte Sie auch interessieren

Rätsel

Jetzt kostenlos spielen!
Lesermeinungen (bitte beachten Sie unsere Community-Regeln)