Fußball ist Kerim Ucars große Leidenschaft. Fußball und Boxen. „Am liebsten würde ich die ganze Zeit Sport machen“, sagt der 18-Jährige. „Aber das geht jetzt nicht mehr so wie vorher. Eine halbe Stunde Sport, danach wird mir schlecht, ich muss mich übergeben und habe Bauchschmerzen.“ Vorher, das ist die Zeit vor dem 5. Oktober. An diesem Tag ist der Schüler im Klinikum Bremen-Mitte operiert worden.
Seine Milz, die wegen einer angeborenen Erkrankung – einer sogenannten Kugelzellenanämie – vergrößert war, sollte entfernt werden. Der Arzt, sagt Kerim Ucar, hätte ihm zu der Operation geraten, weil er danach aktiver sei. Die vergrößerte Milz hatte dazu geführt, dass der 18-Jährige einen Teil seiner Leistungsfähigkeit eingebüßt hat, er war oft blass und nicht so fit, wie er es sich wünschte. „Ich wollte im Fußball besser werden“, sagt er. „Jetzt ist alles anders.“
Kerim Ucar sitzt auf dem Sofa zwischen seinen Eltern. Fast drei Monate ist die Operation jetzt her, bei der alles schief gegangen ist. Nicht die kranke Milz wurde entfernt, sondern eine Niere. Erst einen Tag später soll das in der Pathologie des Krankenhauses aufgefallen sein, als das Gewebe der vermeintlichen Milz untersucht werden sollte.

Am 5. Oktober wurde Kerim Ucar im Klinikum Bremen-Mitte operiert. Einen Tag nach dem Eingriff soll die Verwechslung aufgefallen sein.
„Das kann alles nicht wahr sein, wir sind schockiert und wütend darüber, wie das passieren konnte. Wie kann ein erfahrener Chirurg, der seit Jahren im OP steht, Niere und Milz verwechseln? Was ist da im Operationssaal vor sich gegangen? Was hat das ganze Team gemacht, anstatt aufzupassen?“, fragt Durna Ucar. Die Mutter des 18-Jährigen war gerade bei ihrem Sohn, als einen Tag nach der Operation mehrere Ärzte in das Patientenzimmer kamen, wie sie erzählt.
„Man hat sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Alle waren ganz hibbelig und haben hektisch den Bauch meines Sohnes mit Ultraschall untersucht.“ Den Grund erfährt sie wenige Minuten später. Die Ärzte sagen ihr, dass bei der Operation etwas falsch gelaufen sei, wie sich erst hinterher herausgestellt habe.
Dass die Milz noch im Körper sei und stattdessen eine Niere entfernt wurde. Sie sagen ihr, dass es im Bauchraum so viele Verwachsungen gab, die Organe deswegen und wegen der Erkrankung verrutscht gewesen seien. Dass dadurch die Zuordnung schwierig gewesen sei. Sie sagen ihr, dass dies tragisch sei, dass ihr Sohn aber auch mit nur einer Niere gut leben könne.
Patientenakten sind beschlagnahmt
„Ich dachte, ich höre nicht richtig“, sagt Durna Ucar. „Tut uns leid, aber ist ja irgendwie doch noch gut gegangen? So nicht. Und wir sind überzeugt davon, dass die Version, die uns die Ärzte präsentiert haben, falsch ist. Da sollen grobe Fehler vertuscht werden. Ein Arzt muss erkennen, ob er eine Niere oder eine Milz herausoperiert.“ Durna Ucar tippt auf ein Foto in ihrem Handy, das die herausoperierte Niere ihres Sohnes zeigt.
Einen Tag, nachdem ihr die Ärzte die Nachricht überbracht haben, erstattet die Familie Strafanzeige gegen den Chirurgen. Die Niere in der Pathologie wird beschlagnahmt. Durna Ucar begleitet die Polizeibeamten und fotografiert das Organ. „Das erkennt doch jeder als Niere“, sagt sie. Die Staatsanwaltschaft nimmt Ermittlungen wegen fahrlässiger Körperverletzung auf. Auch die Patientenakten sind beschlagnahmt.
Kerim Ucar erfährt erst am vierten Tag nach dem Eingriff, was passiert ist. Weil es ihm nach der Operation sehr schlecht gegangen sei, wollte die Familie abwarten, bis er ein wenig stabiler ist. „Ich war schockiert, ich wusste nicht, was ich jetzt machen sollte“, sagt der 18-Jährige knapp.
Er rede nicht gerne darüber, überhaupt sei er still und zurückgezogen geworden seitdem, sagt die Mutter. „Er tut so, als ob es ihm gut geht, damit wir uns keine Sorgen machen. Psychisch geht es ihm aber überhaupt nicht gut.“ Der 18-Jährige nickt. Kerim Ucar ist bei einer Psychotherapeutin in Behandlung. Im nächsten Jahr will Kerim Ucar Abitur machen.
„In der Schule läuft es im Moment nicht so gut. Kerim kann sich nur schwer konzentrieren, ihm wird immer wieder schlecht, und er muss sich übergeben. Er konnte Klausuren nicht mitschreiben“, sagt Durna Ucar. Die Lehrer würden aber sehr viel Verständnis für seine Situation zeigen. Jederzeit, wenn es ihm schlecht gehe, könne er den Klassenraum verlassen. Dafür seien sie den Lehrern sehr dankbar.
„Die ganze Familie lebt unter dem Eindruck dessen, was passiert ist. Wir versuchen, den Alltag – so gut es geht – normal zu meistern. Aber es ist da.“ Die Mutter macht dem Chirurgen, dem gesamten OP-Team und der Klinik große Vorwürfe. Nicht ein einziges Mal hätten sie von einem Fehler gesprochen. „Das wollen wir ihnen aber nicht durchgehen lassen, deshalb haben wir Anzeige erstattet. Wir sind auch bereit, durch jede gerichtliche Instanz zu gehen, um den Fehler nachzuweisen. Das lassen wir uns nicht gefallen.“
Anwalt sieht in einem Strafverfahren Chancen
Hans-Berndt Ziegler vertritt die Familie. Der Rechtsanwalt aus Marburg ist auf Medizinrecht spezialisiert, seit vielen Jahren bearbeitet er Fälle wie den von Kerim Ucar. In einem Video auf seiner Homepage kündigt er an, was seine juristischen Gegner von ihm zu erwarten haben: „Ich gehe seit 14 Jahren nicht mehr zum Arzt, und ich weiß, was ich tue. Ich vertrete nur Patienten und habe inzwischen auch ein Feindbild entwickelt. Ich weiß, wie man die Ärzte, wenn sie gepfuscht haben, kriegen kann.“
Für seinen Mandanten aus Bremen sieht er in einem Strafverfahren Chancen. „In der Regel werden Strafverfahren gegen Ärzte eingestellt, deshalb geht man meistens den zivilrechtlichen Weg und strebt einen außergerichtlichen Vergleich an“, sagt er. „Aber in diesem Fall sieht das mit einem Strafverfahren gut aus. Denn: Eine Verwechslung der Organe ist dermaßen gravierend.“
Für den Anwalt ist klar, dass der Arzt einen folgenschweren Fehler begangen hat: „Eine Niere hat vier Zugänge und die Milz zwei, die müssen bei einer Entnahme durchtrennt werden. In diesem Fall wurde die Niere entnommen.“ Der Rechtsanwalt hat Akteneinsicht bei der Staatsanwaltschaft beantragt, außerdem sei ein Gutachten vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen auf dem Weg. „Dann sehen wir weiter."
Familie will für Gerechtigkeit kämpfen
Für die Familie kommt eine weitere Sache hinzu: Durna Ucar war inzwischen mit ihrem Sohn in einer Klinik in Hannover zur Untersuchung. Der Arzt dort habe gesagt, die Vergrößerung der Milz sei im Normbereich und eine Operation nicht notwendig gewesen. „Das macht uns alles wütend und traurig. Wir wollen Gerechtigkeit, vor allem auch, um andere Kinder und Erwachsene zu schützen.“ Die Familie will für diese Gerechtigkeit kämpfen – vor Gericht und in der Öffentlichkeit.
Der Fall hat bereits bundesweit für Schlagzeilen gesorgt. Demnächst will die Mutter eine Demonstration in Bremen anmelden. „Wir wollen darauf aufmerksam machen, dass viele Arztfehler ohne Folgen für die Verursacher bleiben, die Patienten und ihre Familien aber sehr oft ein Leben lang leiden.“ Ihr Sohn habe nur noch eine Niere. „Was ist, wenn die mal geschädigt ist?“ Am 29. Dezember hat Kerim Ucar Geburtstag, er wird 19 Jahre alt. Eigentlich wollte er nach dem Abitur zur Bundeswehr oder zur Polizei. Diese Pläne hat er vorerst aufgegeben, weil er nur noch eine Niere hat.