Als Michaela Babitzke ihren Sohn René nach fast zehn Wochen erstmals wieder besuchen konnte, war er nach ihren Worten „weiß wie die Wand“. Aber das war keine Überraschung für die 56-jährige. Als wegen der Corona-Pandemie auch das Pflegeheim seine Türen für ihren Besuch schloss, in dem René derzeit untergebracht ist, war Babitzke schnell klar, das damit auch eine ganze Reihe von Therapien und Freizeitmöglichkeiten vom Tisch sind, von denen der 33-jährige René sonst profitiert hatte. „Da gab es nur noch die Grundpflege, alles andere fiel hinten runter“, resümiert Babitzke.
Zu diesem anderen gehörte beispielsweise Krankengymnastik und Ergotherapie um Renés spastische Lähmungen zu behandeln, aber auch so einfache Dinge, wie den vollständig auf fremde Hilfe angewiesenen Mann mal an die frische Luft zu bringen. „Am Morgen der Wechsel vom Bett in den Rollstuhl, für den Mittagsschlaf zurück ins Bett und nachmittags wieder in den Rollstuhl, schon das war nicht möglich“, berichtet Babitzke. Über Stunden habe ihr Sohn daher Tag für Tag einfach in seinem Zimmer gesessen oder eben gelegen.
Ähnliches weiß auch Peer-Alexander Kulla zu berichten. Bei ihm geht es um seine Mutter. Die ist geistig noch fit, aber aufgrund einer sehr starken Arthritis in den Händen nicht mehr in der Lage sich selbst zu versorgen. Aus eigenem Antrieb entschied sich die heute 82-jährige, in eine Pflegeeinrichtung zu wechseln. Aber bei den Schließungen durch Corona fiel auch sie auf eine Grundpflege zurück. „Das sind zum Beispiel so Kleinigkeiten wie Haare waschen“, berichtet der Sohn. Die Pflegekräfte schafften das nie, also kam eine Friseurin in die Unterkunft oder die Angehörigen halfen der alten Dame. Beides fiel nun weg. „Klar, das ist noch kein echter Pflegemangel“, sagt Kulla, aber es berühre die Würde des Einzelnen trotzdem.
Grenzen zu strafbaren Pflegemängeln überschritten
Es sind solche Geschichten, die Reinhard Leopold von der Unabhängigen Selbsthilfe-Initiative für Pflegebetroffene und als Bremer Regionalbeauftragter des bundesweit aktiven Biva-Pflegeschutzbundes sammelt. Aus seiner Sicht werden dabei die Grenzen auch zu strafbaren Pflegemängeln überschritten. "Das ist zum Beispiel der Fall, wenn Bewohnern mit Drohung und Einschüchterung verboten wurde, die Einrichtung zu verlassen, auch wenn es dafür in den Corona-Verordnungen keine Rechtsgrundlage gab.
Besonders kritisch sieht Leopold die jetzt noch bis zum 30. September von der Politik ausgesetzten Kontrollen der Wohn- und Betreuungsaufsicht sowie des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen in den Einrichtungen. „Über Monate gab es keine Angehörigen, die nach dem Rechten sehen konnten und die staatlichen Kontrolleure haben ihre Arbeit ebenfalls eingestellt.“ Aus Leopolds Sicht ist so in den Pflegeeinrichtungen in den zurückliegenden Wochen de facto ein rechtsfreier Raum entstanden. Ausgefallene Therapien, weggefallene Freizeitangebote oder die fehlende Hilfe der Angehörigen seien daher nur die Spitze eines Eisberges. „Der ganze Bereich der Pflege war personell schon vor Corona auf Kante genäht.“ Die Pandemie habe die Probleme aber noch verschärft, weil dadurch zusätzliche Arbeitskräfte weggefallen seien.
David Lukaßen räumt als Sprecher des Sozialressorts ein, dass bei der Abwägung der Konsequenzen der Besuchsverbote und Schließungen in den Einrichtungen bewusst in Kauf genommen wurde, dass zum Beispiel ausfallende Physiotherapie die Lage der Betroffenen „sicher nicht verbessert“, wie er es formuliert. Den „rechtsfreien Raum“ weist er hingegen entschieden zurück. „Die Wohn- und Betreuungsaufsicht hat das Gesundheitsamt dabei unterstützt, die Corona-Verordnungen und Hygieneauflagen in den Einrichtungen umzusetzen und dortige Mitarbeiter zu schulen“, erläutert Lukaßen. Dabei sei man in nahezu allen Einrichtungen vor Ort gewesen.
Dabei gemachte Beobachtungen oder auch die praktische Erfahrung, an welchem hygienischen Sachstand die Schulungen jeweils ansetzen mussten, hätten im Nachgang zu weiteren anlassbezogenen Kontrollen geführt. Diese seien anders als die sogenannten Regelkontrollen nämlich nie ausgesetzt gewesen. „In ersten Halbjahr 2020 ist die Zahl dieser anlassbezogenen Kontrollen in der gleichen Größenordnung gewesen, wie im Vorjahr ohne Corona“, sagt Lukaßen, auch wenn die Angehörigen als mögliche Quelle von Hinweisen auf Missstände tatsächlich weggefallen seien. Lukaßen rät, sich bei Problemen ohne Scheu an die Wohn- und Betreuungsaufsicht oder das Gesundheitsamt zu wenden. Man wisse dort auch um mögliche Befürchtungen, dass die gepflegten Angehörigen solches „Gepetze“ ausbaden müssten, und versuche darum, Kontrollen so zu gestalten, dass keine Rückschlüsse auf den Hinweisgeber möglich seien.