Hat Bürgerschaftspräsidentin Antje Grotheer (SPD) den Fraktionsvorsitzenden von Bündnis Deutschland (BD), Jan Timke, an der freien Ausübung seines Mandats gehindert, als sie ihm im Sommer 2023 im Parlament nach mehrfacher Ermahnung das Wort entzog? Um diese Frage geht es seit Montag vor dem Staatsgerichtshof, dem Verfassungsgericht des kleinsten Bundeslandes. Timke fügte sich damals in der Sitzung. Er wollte die Sache aber nicht auf sich beruhen lassen und strengte ein sogenanntes Organstreitverfahren vor dem Staatsgerichtshof an. Sein erklärtes Ziel: Das Gericht soll feststellen, dass die Sanktion der Präsidentin überzogen war und seine Rechte als Abgeordneter verletzt wurden.
Rückblende, 5. Juli 2023: Die neu gewählte Bürgerschaft kommt zu ihrer zweiten Sitzung zusammen, auf der Tagesordnung steht die Wahl der Senatsmitglieder. Timke hat 20 Minuten Redezeit und kündigt gleich zu Beginn seines Beitrags an, dass er sich zunächst kritisch mit den Linken als Teil des rot-grün-roten Regierungsbündnisses auseinandersetzen will. Die ersten Minuten verwendet er darauf, die Verfassungstreue der "SED-Fortführungspartei" zu hinterfragen. Ausführlich schildert er, dass einzelne Strömungen innerhalb der Linken vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Bürgerschaftspräsidentin Grotheer ist das zu weit ab vom Thema der Aussprache, also der Wahl des Senats. Sie fordert Timke auf, zur Sache zu sprechen. Der widmet sich jedoch – wenig beeindruckt – weiter den Linken, woraufhin Grotheer ihm nach kurzer Zeit einen zweiten sogenannten Sachruf erteilt. Als Timke auch hierauf nicht reagiert, sondern sich weiter mit der Verfassungstreue der Linken beschäftigt, kommt es zum Eklat. Grotheer ergreift eine Ordnungsmaßnahme, die in der Bürgerschaft großen Seltenheitswert hat: sie entzieht ihm das Wort, woraufhin der BD-Fraktionschef seine Rede vorzeitig abbrechen muss.
Durfte die Parlamentspräsidentin so massiv einschreiten? Sie selbst berief sich damals wie heute auf die Geschäftsordnung der Bürgerschaft, die der Sitzungsleitung das Recht gibt, Abgeordnete "zur Sache" zu rufen, wenn sie erkennbar vom eigentlichen Beratungsgegenstand abschweifen. Im Wiederholungsfall ist auch der Entzug des Wortes möglich. In der mündlichen Verhandlung vor dem Staatsgerichtshof ging es am Montag nicht zuletzt um die Frage, welchen Gestaltungsspielraum der einzelne Abgeordnete bei seinen Redebeiträgen hat. Timkes Anwalt Andreas Reich führte einige zurückliegende Gerichtsentscheidungen an, deren Tenor lautet: Bei großzügiger Auslegung muss wenigstens ein mittelbarer Zusammenhang zum eigentlichen Debattenthema erkennbar sein. Das sei bei Timkes abgebrochenem Redebeitrag zweifelsfrei der Fall gewesen. Reich verwies darauf, dass in der gleichen Debatte die Vorsitzende der Grünen-Fraktion große Teile ihrer Redezeit auf die Klimakrise, die Folgen des Ukraine-Krieges und andere Stichworte verwendet habe, die keinen direkten Bezug zur Senatswahl hatten. Bei der Grünen-Vertreterin habe Grotheer allerdings nicht interveniert. Es sei also mit zweierlei Maß gemessen worden.
Der Prozessvertreter der Präsidentin, Tristan Barczak (Uni Passau), hielt dagegen. Er wies darauf hin, dass in der gleichen Debatte ein anderer Vertreter von Bündnis Deutschland deutlich polemischer gesprochen habe, ohne dass Antje Grotheer einschritt. In diesem Fall sei allerdings ein zumindest mittelbarer Sachzusammenhang zum Debattengegenstand erkennbar gewesen.
Der Staatsgerichtshof will nun in den kommenden vier Wochen eine Haltung zu dem Streitfall entwickeln. Vorsitzender Peter Sperlich ließ noch nicht erkennen, welcher Position das Gericht zuneigt. Klar war für ihn indes: Die Abgeordneten sind nicht völlig frei bei der Gestaltung ihrer Redebeiträge. Landesverfassung und Parlamentsgeschäftsordnung setzen aus seiner Sicht Schranken – anders lasse sich die Funktionsfähigkeit des Parlaments nicht gewährleisten.