Frau Aulepp, der ehemalige Präsident des Europäischen Parlaments und einstiger SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hat kürzlich in einem Interview mit dem „Spiegel“ unter dem Titel „Politik ist schwer erträglich geworden“ festgestellt: „Die Belastung geht häufig über das Maß des Erträglichen hinaus.“ Kennen Sie das?
Sascha Aulepp: Es ist einerseits sinnstiftend, in einem Bereich zu arbeiten, in dem es um das Wichtigste geht, was wir haben: die Kinder, ihre Zukunft und ihre Potenziale. Ich will, dass allen Kindern in Bremen und Bremerhaven, unabhängig woher sie kommen, Flügel wachsen, damit sie über sich hinauswachsen können. Auf der anderen Seite gibt es viele Herausforderungen auf dem Weg, diese Aufgabe zu erfüllen. Man legt sich zwangsläufig mit vielen Leuten an. Den einen geht es nicht schnell genug, die anderen fragen, warum man so schnell vorangeht. Das ist schon anstrengend. Aber ich weiß, wofür ich das mache und wofür ich Konflikte aushalte – für die Kinder.
Festzuhalten ist, dass momentan noch allerhand Kinder ohne Flügel aus der Schule ins Leben stolpern müssen und es dadurch ungleich schwerer haben. Beschäftigt Sie das?
Auf jeden Fall. Es tut weh, zu sehen, dass es nicht so schnell geht, wie ich es mir wünschte, und dass es Kinder gibt, die zunächst wenig Chancen haben, ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten zu entfalten. Wir müssen vor allem auf die Kinder gucken, die schwierige Voraussetzungen haben. Diese Kinder sollen vor der Schule die Kita besuchen. Ja, wir bräuchten weniger Plätze, wenn wir es dabei beließen, dass einige Kinder nicht die Kita besuchen, obwohl sie hohen Sprachförderbedarf haben. Aber wir machen es anders: Wir werben bei den Eltern, ihre Töchter und Söhne vor der Schule in die Kita zu bringen. Wir melden sie selbst an, um ihnen den Schuleinstieg zu erleichtern. Kitaplätze für berufstätige Eltern und vor allem Alleinerziehende sind wichtig, keine Frage, aber für diese Kinder eben auch. Wenn ich nur einen Platz habe, muss ich Prioritäten setzen und auf das Kind gucken.
Das heißt, in Ihrer Bilanz schauen Sie eher auf die Kinder, die wegen der Anstrengungen des Ressorts keine Schulabbrecher von morgen werden statt auf die Schulabbrecher von heute, für die die Anstrengungen zu spät kommen?
Ich habe als Jugendrichterin gelernt, dass es nie zu spät ist. Es wäre gut, wenn alle Kinder die Schule problemlos durchlaufen könnten. Aber es gibt Kinder, die es schwerer haben, weil sie zum Beispiel zugewandert sind. Auf sie müssen wir besonders achten, und das tun wir. Wir haben nicht nur vier Willkommensschulen für geflüchtete Kinder gegründet, damit sie unsere Sprache lernen und wir sie schnell in unser Schulsystem integrieren können. Wir haben auch vier neue Bildungsabteilungen gegründet, die sich explizit auch um Schulmeiderinnen und Schulmeider kümmern.
Die Frustrationen müssen dennoch groß sein: Bremen schneidet in jeglichen Leistungsvergleichen schlecht ab, die Schulabbrecher-Quote ist hoch. Dafür werden Sie zumindest mitverantwortlich gemacht.
Ich habe den Anspruch, dass wir allen die Chance geben können, das Beste aus sich rauszuholen. Ich muss aber feststellen, dass viele das nicht oder noch nicht schaffen, trotz der Möglichkeiten, die wir bieten. Das trifft und belastet mich natürlich. Vor allem aber frage ich mich, was wir besser machen können.
Inwiefern hat sich Ihr Leben durch diese Belastung verändert?
Es gibt Nächte, in denen mich die anstehenden Aufgaben nicht gut schlafen lassen. Der Druck ist schon groß, Bremen bräuchte vom Bund dringend mehr Geld für Bildung. Aber er motiviert mich auch. Ich will mehr Kinder in die Kitas bringen, mehr Personal akquirieren, mich dafür auch mal streiten und etwas durchkämpfen.
Viele fragen sich, warum man sich dieses Ressort antut, zumal sich die Rahmenbedingungen ohne bremisches Zutun verschlechtert haben – Stichwort Fachkräftemangel und Zuwanderung. Was Sie tun oder lassen betrifft Tausende Kinder, Eltern, Lehrer, Erzieherinnen und andere Mitarbeiter. Sie bieten eine enorme Angriffsfläche.
Ich bekomme Kritik von allen Seiten, manchmal auch aus diametral entgegengesetzten Gründen. Ich halte das aus, weil es wichtig ist, alle Anstrengungen zu unternehmen, um unseren Kindern einen guten Start ins Leben zu ermöglichen.
Als Landesvorsitzende zählten Sie zur Spitze der Regierungspartei SPD, auch in dieser Funktion konnten Sie Ihren Einfluss geltend machen. Auch als Jugendrichterin konnten Sie den Lebensweg von jungen Menschen positiv beeinflussen.
Das stimmt. Aber ich konnte nicht unmittelbar gestalten. Wir haben Kitas gebaut, ich war mir sicher, dass wir Erfolge sehen werden. Haben wir auch: Wir haben bei der Kinderbetreuung eine Wachstumskurve zu verzeichnen, die im Bundesvergleich einen Spitzenwert darstellt. Bei der Betreuungsquote sind wir trotzdem nicht besser geworden, weil die Zahl der Kinder in Bremen deutlich steiler angestiegen ist als anderswo, unter anderem durch die Folgen des Angriffskriegs gegen die Ukraine. Wir haben 5000 Kitaplätze geschaffen, und 6000 neue Kinder im Kita-Alter sind nach Bremen gekommen.
Hätten Sie das Amt auch angetreten, wenn Sie geahnt hätten, welche neue Herausforderungen auf Sie zukommen?
Ich habe mir gründlich überlegt, was mich an dieser schwierigen Aufgabe reizt. Ich habe eine Arbeit als Juristin, der ich sehr gerne nachgegangen bin, ich war gerne Abgeordnete der Bremischen Bürgerschaft. Das Bildungs- und Kinderressort war das einzige, was mich gereizt hat, und ich vermute, ich hätte mich nicht anders entschieden, wenn ich gewusst hätte, dass die Arbeit schwieriger wird als angenommen. Ich mache das nach wie vor aus vollster Überzeugung.
Ihnen muss von Anfang klar gewesen sein, dass es sehr schwierig sein wird, beispielsweise die Pisa-Ergebnisse zu verbessern, obwohl von vielen Bürgern erwartet wird, dass sich da endlich etwas tut.
Ich stecke alle meine Kraft in dieses Ziel, nicht um im Vergleich besser dazustehen, sondern um den Kindern bessere Chancen bieten zu können. Und oft sind wir besser als unser Ruf, etwa bei der Inklusion. Bundesweit haben wir die niedrigste Exklusionsquote und unsere Schüler und Schülerinnen mit Förderbedarf schaffen dreimal so viele Abschlüsse wie noch vor Jahren.
Ärgert es Sie, dass die bremische Bildungspolitik vor allem an Pisa-Ergebnissen gemessen zu werden scheint?
Ich wünsche mir oft einen weiteren Blick. Wir Bremerinnen und Bremer sind häufig mit hanseatischem Understatement unterwegs. Wir verstehen uns nicht so gut darauf, uns selbst zu loben.
Wofür können Sie sich und Ihr Ressort loben?
Beispielsweise für das Projekt „Bremer Leseband“. In einer Evaluation hat sich gezeigt, dass 96 Prozent der Lehrkräfte es für eine gute Sache halten. Das ist der Hammer: Wir haben etwas Neues eingeführt, das Mehrarbeit macht, und nach nicht mal einem Jahr sind fast alle Beteiligten davon überzeugt. Man kann natürlich auch fragen, was die vier Prozent zu kritisieren haben. Das muss man auch, aber man darf sich den Erfolg dadurch nicht madigmachen lassen.
Lob und Kritik werden sich allerdings nicht die Waage halten. Wie sieht das Verhältnis aus?
Lob kommt oft direkt und persönlich. Ich werde auf der Straße angesprochen, von Eltern oder von Lehrkräften. Da geht einem schon das Herz auf.
Das wiegt die teils massive Kritik auf?
Solche Erlebnisse zeigen mir, dass es auch Menschen gibt, die sehen, was ich leiste und das gutheißen. Kritik wird auf einer anderen Ebene geäußert, öffentlich, in den Medien, von der Opposition, das gehört auch dazu. Es gibt konstruktive und sachliche Kritik, die ich mir gerne gefallen lasse und die uns weiterbringt. Was mich schon berührt: Wenn es persönlich und unsachlich wird, wenn es heißt, dass Senatorin Aulepp die Position freimachen sollte, damit es Fortschritte in der Bildungspolitik gibt. Aber auch das gehört zum politischen Geschäft, man argumentiert sozusagen mit harten Bandagen.
Sie lassen sich eigentlich nie etwas anmerken. Sind Sie geübt darin, ein Pokerface aufzusetzen?
Genauso wenig wie Rampensau mein zweiter Vorname ist, ist Pokerface mein zweiter Vorname. Ich glaube schon, dass man merkt, wenn mich etwas ärgert, aber auch, wenn mich etwas freut.
Sie scheinen Kritik jedenfalls professionell wegzustecken oder weinen Sie nachts doch in Ihre Kissen?
Ich bin eine Kämpfernatur. Wenn es schwierig wird, krempele ich die Ärmel hoch. Das Schöne ist, dass ich Menschen um mich herum habe, mit denen ich mich über Ärgernisse, Misserfolge, aber auch Erfolgserlebnisse austauschen kann. Sie halten aus, wenn ich schimpfe oder wenn ich geknickt bin, sie freuen sich mit mir, wenn ich mich freue, sie achten auf mich und fangen mich auf. Auch meine Partei trägt mich.
Haben Sie den Eindruck, dass Ihre Erfolge bei all den Schwierigkeiten – mehr Kinder, weniger Fachpersonal, hoher Krankenstand – untergehen und nicht genug gewürdigt werden?
Wir stehen in Bremen vor enormen Herausforderungen, die Bildungsrisiken sind hoch, höher als in den anderen Bundesländern, auch als in den Stadtstaaten. In Berlin liegt der Anteil der Kinder mit solchen Risiken bei gut 30 Prozent, bei uns bei über 50 Prozent.
Man müsste Ihre Arbeit und die Ihres Ressorts an dieser Ausgangslage messen? Was in Bayern ein kleiner Schritt ist, ist in Bremen ein großer – so in etwa?
Die Ausgangslage spielt jedenfalls eine große Rolle. Wenn ich sehe, dass laut unserer Lernausgangslagen-Untersuchungen viele Schülerinnen und Schüler mit Startschwierigkeiten in den Oberschulen mit hohem Sozialindex größere Fortschritte machen als die in anderen Schulen, bestärkt mich das, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Es zeigt, dass unsere Kolleginnen und Kollegen dort es schaffen, dass sich die Schere zwischen den Kindern in unterschiedlichen sozialen Lagen nicht weiter spreizt. Ich empfinde es nicht als ungerecht, wenn das in Leistungsbilanzen meines Ressorts unter den Tisch fällt. Aber es wäre schön, wenn sie etwas differenzierter ausfallen würden.
Martin Schulz hat in erwähntem Interview über die Erwartungen an Politiker auch gesagt: „Jedes noch so komplexe Problem soll nicht jetzt, sondern schon gestern gelöst werden, jedenfalls auf keinen Fall erst morgen.“ Sind die Erwartungen an Sie zu hoch?
Es ist völlig richtig und berechtigt, von Politikerinnen und Politikern zu erwarten, die Gesellschaft zum Besseren zu gestalten, so schnell wie möglich. Die Frage ist: Was ist so schnell wie möglich? Ich bin selbst ziemlich ungeduldig und will vieles am besten sofort. Aber wer erwartet, dass Dinge von heute auf morgen umgesetzt werden können, erwartet zu viel. Denn wir stehen vor einer täglichen Mammutaufgabe.
Welche Erwartungen haben Sie an sich selbst? Haben Sie die Erwartung, es besser zu machen als Ihre Vorgängerinnen und Vorgänger?
Ich habe die Erwartung, dass das, was ich tue, einen Unterschied zum Besseren macht, im Leben von Kindern und Jugendlichen.