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Bremer Projekt für Obdachlose "Das ist mein Zuhause, volle Kanne"

Seit gut zwei Jahren gibt es das Modellprojekt Housing First in Bremen: Obdachlose Menschen werden in Wohnungen vermittelt. Alice Marie Ahlers ist eine von ihnen. Wie die Bilanz des Projekts ausfällt.
28.12.2023, 05:00 Uhr
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Von Sabine Doll

Alice Marie Ahlers mag es farbenfroh. Gelb wie die Sonne. Grün wie Pflanzen. Blau und türkis wie das Meer. „Die Küche ist mein Sonnenzimmer“, sagt die 39-Jährige. Seit August vergangenen Jahres lebt sie in ihrer Wohnung, die Zimmer hat sie in unterschiedlichen Farben gestaltet. „Das ist mein Zuhause, in dem ich mich wahnsinnig wohlfühle, volle Kanne. Mein Leben geht in die richtige Richtung“, sagt sie.

Ein Gefühl, das die Bremerin viele Jahre nicht kannte. Ahlers lebte immer wieder auf der Straße, hat auf dem Sofa bei Freunden übernachtet, in einem Zelt im Wald campiert. „Ich war schon in jungen Jahren viel draußen, bin auch immer wieder abgehauen, es gab Konflikte mit der Familie und psychische Probleme“, sagt Ahlers. Im Sommer vergangenen Jahres ist sie von einem Betreuer auf Housing First angesprochen worden – wenige Wochen später ist sie eingezogen.

Was ist Housing First?

Das Projekt richtet sich an Menschen wie die 39-Jährige. Menschen, die auf der Straße leben, ihr Leben verändern, Probleme angehen wollen – und als Allererstes ein Zuhause brauchen. „Dafür steht der Name des Projekts“, erklärt Housing-First-Geschäftsführer Moritz Muras. „Die Wohnung ist der Anfang von allem, dann folgt die weitere Stabilisierung.“ Ziel sei es, wohnungs- und obdachlose Menschen in reguläre Mietverhältnisse zu bringen. Die Teilnehmer sollen sich aus einem eigenen, sicheren Umfeld heraus um ihre Probleme kümmern können. „So wie jeder andere auch, Wohnen ist ein elementares Menschenrecht. Wir vermitteln keine vorübergehende Unterkunft, sondern ein Zuhause“, betont Muras.

Vor gut zwei Jahren ist Housing First in Bremen als Modellprojekt gestartet, zur Umsetzung haben sich die Vereine Wohnungshilfe und Hoppenbank zusammengeschlossen. Das Projekt wird laut Muras vom Sozialressort mit jährlich mit einem Budget von 400.000 Euro gefördert. 

Wie viele Wohnungen wurden bezogen?

„Bislang konnten wir 34 Menschen in Wohnungen vermitteln“, sagt Geschäftsführerin Svenja Böning. „Zwei Menschen sind gestorben, zwei weitere mussten aufgrund von Räumungen ausziehen. Alle anderen leben dort nach wie vor.“ Hauptvermieter seien die Brebau und Vonovia, die Mietverträge werden direkt mit den Teilnehmern geschlossen. 

Wie erfahren die Menschen von dem Angebot?

Etwa über Streetworker, gesetzliche Betreuer oder andere Anlaufstellen. „Inzwischen ist das Projekt in der Szene aber so gut bekannt, dass sich die Menschen auch direkt an uns wenden“, sagt Böning. „Die Nachfrage ist deutlich größer als das Angebot. Mit mehr Personal könnten wir mehr Menschen aufnehmen, dafür reicht aber das Budget nicht.“ 

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Wer gehört zur Zielgruppe und wie läuft die Vermittlung?

Voraussetzung ist laut Muras, dass die Menschen mindestens ein Jahr auf der Straße leben, aus unterschiedlichen Gründen keinen Zugang zum Regelsystem und einen Leistungsanspruch haben, damit eine dauerhafte Mietzahlung gesichert ist. „Dann folgt ein Aufnahmeverfahren, wobei auch die gesundheitliche Situation, psychische und Suchtprobleme besprochen werden. „Manche möchten etwa vor dem Einzug eine Entgiftung machen“, erklärt Böning. „Wir fragen die Klienten, wie sie wohnen möchten. Ob ein Kinderzimmer benötigt wird, Balkon oder Garten, Anbindung an den ÖPNV, in welchem Stadtteil sie leben möchten.“ Manche suchten ganz bewusst Distanz vom bisherigen Umfeld. Die Entscheidung fällt laut Böning im Team: „Einzugstermin ist nach etwa sechs bis zehn Wochen.“

Wie sieht die weitere Begleitung aus?

Zwei Jahre lang werden die Teilnehmer von Housing First begleitet, bekommen Betreuer zur Seite gestellt. „Der Einzug ist eine besonders intensive Zeit“, erklärt Böning. „Das Leben in einer Wohnung ist nicht selten gewöhnungsbedürftig. Manche schlafen zunächst auf dem Fußboden oder schlagen ihr Zelt auf, ein Teilnehmer ist in der ersten Zeit nur zum Duschen nach Hause gekommen.“
Generell sei einmal in der Woche ein Kontakt vorgesehen. Die Sozialarbeiter unterstützen bei praktischen Dingen rund um Wohnen und Haushalt, beim Kauf von Möbeln und Lebensmitteln, erkunden gemeinsam mit den Teilnehmern ihr neues Umfeld, helfen bei Behördengängen. Zentrale Themen seien Sucht- und Schuldnerberatung. „Wir machen keine Vorgaben, sondern unterstützen. Im Mittelpunkt steht die Frage: Was ist es, was Du gerade bearbeiten möchtest?“, sagt Böning. Häufig gehe es auch um das Thema Familie, etwa den Kontakt zu Kindern wieder aufzunehmen. 

Welche Bilanz ziehen die Organisatoren bisher?

„Die Menschen, die einziehen, bleiben“, betont Muras. „Housing First ist ein wirksamer Ansatz, um Obdachlosigkeit nachhaltig zu überwinden. Das zeigt sich bundesweit.“ Muras ist Mitbegründer des Bundesverbands Housing First, in dem 22 Projekte organisiert sind. Mehr als 90 Prozent der Menschen wohnten langfristig in einem stabilen Mietverhältnis in guter Nachbarschaft. Die körperliche und seelische Gesundheit verbessere sich erheblich. „Die soziale Integration in der Nachbarschaft und auf dem Arbeitsmarkt gelingt besser als bei allen bisher bekannten Konzepten der Obd

Wie geht es mit dem Bremer Projekt weiter?

„Wir hoffen, dass Housing First in Bremen Bestandteil der Regelversorgung mit einer gesicherten Finanzierung wird“, sagt Muras. "Dieses Ziel ist im Koalitionsvertrag formuliert." Das politische Interesse sei da. „Allerdings bereitet uns auch die Haushaltslage Sorgen.“

Was sagen die Teilnehmer?

Vor dem Einzug sei sie skeptisch gewesen, sagt Ahlers. „Mir war nicht klar, warum ich zuerst eine Wohnung brauche, um Probleme angehen zu können. Ärzte hatten mich für eine Therapie abgelehnt, ich wurde als Obdachlose herumgeschoben.“ Schließlich habe sie eingesehen, dass ein Zuhause ihr die Stabilität gebe, die sie für alle anderen Dinge benötige. „Ich kann Freunde einladen, ein soziales Leben führen, wie es vorher nicht möglich war. Volle Kanne.“

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