Herr Florstedt, täuscht der Eindruck, dass die Bereitschaft zu einer Zeugenaussage vor Gericht abnimmt? Dass Zeugen offen zur Schau tragen, wie wenig Lust sie haben, auszusagen. Wenn sie denn überhaupt vor Gericht erscheinen.
Jens Florstedt: Eines vorweg – für Gerichtsreporter und Strafrichter liegt der Fokus auf dem Teil der Gesellschaft, der häufig Schwierigkeiten mit dem Staat hat. Das ist aber nur ein kleiner Ausschnitt, das dürfen wir dabei nicht vergessen. Deshalb sehe ich so schwarz nicht. Ich persönlich habe aber auch nicht den Eindruck, dass die Aussagebereitschaft stark abgenommen hat. Zumindest nicht vor Gericht. Was mir eher Sorge bereitet, ist das Verhalten von Zeugen schon im Vorfeld.
Sie meinen bei der Vernehmung durch die Polizei?
Richtig. Wenn Zeugen vor Gericht nicht aussagen wollen, ist das vielleicht lästig. Das bekommen wir meistens aber hin. Doch die Justiz muss ja überhaupt erst befähigt werden, Straftaten zu verfolgen. Und das kann sie nicht, wenn es keine Bereitschaft gibt, bestimmte Taten anzuzeigen.
Woran könnte es liegen, dass Zeugen nicht vor der Polizei aussagen wollen?
Meine Befürchtung ist, dass die Sorge vor Vergeltung oder Rache durch die Täter größer geworden ist. Dieses Motiv halte ich außerhalb sozialer Nahebeziehungen in der Regel aber für unbegründet. Die polizeiliche Kriminalstatistik oder unsere justizinterne Statistik liefern hierzu keine Erkenntnisse und ich kenne hierzu auch keine rechtssoziologischen Forschungen. Aus meiner 20-jährigen beruflichen Tätigkeit als Staatsanwalt oder Richter mit vielen tausend bearbeiteten Fällen ist mir kein einziger Fall bekannt.
Aber werden Zeugen nicht manchmal eingeschüchtert?
Es kann sein, dass Zeugen vor Gericht besonders Angst haben. Da kann man als Richter nur immer wieder mit viel Geduld appellieren, doch auszusagen. Aber wie schon gesagt – in der Regel passiert den Aussagenden nichts. Auch nicht, wenn sie zum Beispiel gegen Clanmitglieder ausgesagt haben.
Das Risiko ist für Zeugen und Richter äußerst gering.
Apropos Angst: Wie sieht es bei Ihnen selbst aus? Haben Sie Angst vor Racheakten?
Ganz ehrlich: nein. Das Risiko, Opfer von Straftaten zu werden, ist für Richter wie für die Zeugen äußerst gering. Viel geringer beispielsweise, als Opfer eines Verkehrsunfalls zu werden. Dass die Verurteilten Groll gegen Richter hegen, ist nachvollziehbar. Gleichwohl werden Richter so gut wie nie angegriffen. Es passiert, aber es passiert äußerst selten. Dieses Risiko einzuschätzen, halte ich für ungemein wichtig. Weil es Angst nimmt – Richtern wie Zeugen.
Zurück zu den Zeugen. Könnte neben der Angst als mögliches Motiv, nicht auszusagen, auch die fehlende Bereitschaft, den Rechtsstaat zu unterstützen, ein Grund sein?
Das ist eine Vermutung, die ich weder bestätigen noch verwerfen kann. Fakt ist, dass man sich diesen Rechtsstaat wachhalten muss und wir gut daran tun, ihn zu unterstützen. Und das geht nicht ohne den Bürger. Der Staat ist auch in dieser Hinsicht auf seine Bürger angewiesen.
Wenn es vor Gericht um Organisierte Kriminalität geht oder wie zuletzt um Raubüberfälle, haben nicht nur die Täter, sondern oft auch Zeugen einen Migrationshintergrund. Da gibt es – vorsichtig ausgedrückt – wenig Interesse am Wohlergehen des deutschen Rechtsstaates.
Das ist eine Schwierigkeit, die ich auch sehe, aber die muss bewältigt werden. Ich habe großes Verständnis dafür, dass man einem Staat mit Misstrauen begegnet, wenn die bisherigen Erfahrungen so waren, dass man nie eine friedensstiftende Funktion des Staates wahrnehmen konnte, sondern ihn immer als Bedrohung hat wahrnehmen müssen. Zugleich müssen wir aber alles daransetzen, dass Menschen, die zu uns kommen, Vertrauen in den Staat und seine Institutionen gewinnen. Dazu gehört auch die Justiz.
Welche Pflichten und Rechte haben Zeugen vor Gericht?
In aller Regel muss ausgesagt werden. Und zwar umfassend. All das, was ich weiß oder wahrgenommen habe, muss gesagt werden. Es sei denn, man würde damit sich selbst oder Angehörige belasten. Dann bin ich nicht dazu verpflichtet, auszusagen. Wenn ich mich aber freiwillig entscheide, auszusagen, darf ich als Zeuge vor Gericht nichts Falsches sagen.
Was droht einem Zeugen im Fall einer Falschaussage?
Eine Freiheitsstrafe nicht unter drei Monaten. Und für eine vorsätzliche Falschaussage unter Eid nicht unter einem Jahr.
Es ist häufig die Rede davon, dass sich Bremens Bürger nicht mehr sicher fühlen. Überträgt sich das in den Gerichtssaal?
Ich denke, das hat mit der subjektiven Wahrnehmung von Kriminalität zu tun. Ich vermute mal, dass empfunden wird, die Zahl der Straftaten hätte zugenommen. Das ist eine seit Jahrzehnten verbreitete These, die aber weder durch die Statistik noch in der kriminologischen Forschung gestützt wird.
Aber nehmen wir doch nur mal die vielen Raubüberfälle in letzter Zeit. Da sind die Sorgen und Ängste vieler Bürger doch nicht aus der Luft gegriffen, oder?
Nein, sicher nicht. Es sind aber immer wieder einzelne Felder, die extreme Probleme schaffen. Bei denen sind die Ermittlungsbehörden und die Gerichte aufgerufen, schnell zu handeln und zu entscheiden. Trotzdem kann man über die Jahrzehnte betrachtet nicht feststellen, dass es einen signifikanten Zuwachs bei der Kriminalität gegeben hat.
Klingt nach guten Nachrichten für die Justiz?
Um es klar zu sagen: Dieser Befund heißt nicht, es ist alles gut, und wir als Justiz könnten unsere Hände in den Schoß legen. Wir haben es teilweise mit Verfahrensdauern zu tun, die mein Gerechtigkeitsempfinden stark strapazieren. Wir müssen Bürokratie und Formalismus abbauen. In vielen Lebensbereichen der Menschen und auch in den Prozessordnungen der jeweiligen Verfahren innerhalb der Justiz wird der zu betreibende Aufwand größer statt kleiner. Aber das darf uns nicht davon abhalten, selbst das Richtige zu tun und – wenn es von der Sache her geboten erscheint – sich an die Polizei zu wenden.
Womit wir wieder bei den Zeugenaussagen wären. Welche Hoffnung haben Sie in dieser Hinsicht?
Kriminalität ist ein bedauerliches Phänomen, das wir in unserer demokratisch-liberalen Gesellschaft aber aushalten müssen. Wir müssen nur alles daransetzen, dass sie möglichst gering bleibt. Und dafür sind wir auf Zeugenaussagen angewiesen. Das Bewusstsein auszusagen, ist aber auch dem steten gesellschaftlichen Wandel unterworfen. Denken Sie zum Beispiel an die körperliche Züchtigung von Kindern oder an Gewalt in der Ehe. Beides war vor gar nicht langer Zeit noch gang und gäbe. Heute ist das ganz anders. Das zeigt, dass wir über eine Bewusstseinsänderung auch die Bereitschaft, auszusagen beeinflussen können. So sehen wir vielleicht kurzfristig keine Erfolge, langfristig aber schon.
Das Gespräch führte Ralf Michel.