In rund 1200 Fällen versuchen Bremer Verwandte von türkischen Erdbebenopfern ihre Angehörigen zu sich nach Hause zu holen. Das geht aus Zahlen der Innenbehörde hervor. Die Bundesregierung hatte zugesagt, die Einreise von Menschen, die von der Naturkatastrophe betroffen sind, zu erleichtern. Das wird jetzt massenhaft in Anspruch genommen, hat aber trotz des vereinfachten Verfahrens noch zu keiner Einreisewelle geführt. Grund ist der lange Vorlauf, bis die Anträge bearbeitet sind.
Kenan Tiryaki, ein Bremer Café-Betreiber, der in Delmenhorst lebt, ist bereits weit vorangekommen, einen Teil seiner Familie aus dem türkischen Erdbebengebiet nach Deutschland zu retten. Voraussetzung ist, dass er sich für jeden seiner vier Angehörigen verpflichtet, die Kosten des Aufenthalts zu übernehmen – ein Akt, für den in Delmenhorst die Ausländerbehörde zuständig ist. "Ich bin dankbar für die Hilfe dort", sagt Tiryaki, "das ging alles relativ schnell." Er ist jetzt im Besitz der sogenannten Verpflichtungserklärungen.
An diesem Freitag fliegt der Gastronom in die Türkei, um seinen Angehörigen die Dokumente zu übergeben: "Sie mit der Post zu schicken, dauert in dem Chaos viel zu lange." Der nächste Schritt sei, den Visaantrag vorzubereiten, dafür gebe es eine Stelle, die mit der deutschen Botschaft zusammenarbeite. Und am Ende sollten sie dann die Visa in den Händen halten, hofft Tiryaki. Er rechnet mit zwei bis drei Wochen, bis seine Verwandten nach Deutschland einreisen dürfen.
Die Aufenthaltserlaubnis für die Erdbebenopfer ist auf 90 Tage beschränkt. Tiryaki will trotzdem versuchen, den Besuch möglichst zu einem Daueraufenthalt werden zu lassen: "Ich kann meine Leute im Café beschäftigen und habe bei mir zu Hause Platz genug, sie vernünftig unterzubringen." Das Visum schließt allerdings ausdrücklich aus, in Deutschland zu arbeiten, und es ist befristet. Ein Dilemma, findet Tiryaki: "Wie soll ich sie unter solchen Umständen zurückschicken, das geht doch nicht."
In Bremen sind im Rahmen der Erdbebenhilfe nach Angaben des Innenressorts bislang rund 500 Termine für die Erteilung von Verpflichtungserklärungen abgewickelt worden. Bis Ende Mai seien es weitere 700 Fälle. Hinter jedem dieser Termine stehe eine eingeladene Person. Es komme häufig vor, dass die Gastgeber gleich mehrere Angehörige aufnehmen wollen. So wie im Fall von Kenan Tiryaki.
In Bremen ist für solche Anträge das Bürgeramt zuständig – eine Behörde, die auch ohne diese zusätzliche Belastung in den vergangenen Monaten an ihre Grenzen gestoßen ist, wie der Senat feststellt. Das Gleiche gelte für das Migrationsamt. "Durch den Kriegsausbruch vor einem Jahr in der Ukraine sind fast auf einen Schlag rund 9000 Flüchtlinge in Bremen angekommen, die insbesondere in diesen beiden Ämtern zu einer erheblichen Mehrarbeit geführt haben", heißt es in einer Mitteilung. Es gebe fortlaufend mehr Zuzug aus der Ukraine, "und durch die Dynamik des Krieges ist mit weiteren plötzlichen Fluchtbewegungen zu rechnen". Diese massive Mehrbelastung habe sich unmittelbar auf das übrige Terminangebot ausgewirkt, zum Beispiel auf die Ausgabe von Personalausweisen und Reisepässen. Als Konsequenz hat der Senat in dieser Woche beschlossen, 30 zusätzliche Vollzeitstellen für das Bürger- und das Migrationsamt einzurichten.
Im Zusammenhang mit der Erdbebenhilfe war von den Behörden vor drei Wochen bereits berichtet worden, dass das Bürgerservice-Center in der Stresemannstraße weitere personelle Unterstützung bekomme, um die Vergabe der Termine zu beschleunigen. Zurzeit haben sie einen Vorlauf von bis zu zweieinhalb Monaten.
Kenan Tiryaki hat es im Vergleich zu den bremischen Verhältnissen bei der Ausländerbehörde in Delmenhorst besonders gut getroffen. Er könnte, sollte alles gut gehen, bundesweit zur Spitze derjenigen gehören, denen es gelungen ist, ihre türkischen Verwandten aus dem Erdbebengebiet nach Deutschland zu holen. Wie gering die Zahl der Einreisen trotz der vereinfachten Visa-Bestimmungen noch ist, macht eine Auskunft deutlich, die der WESER-KURIER auf Anfrage vom Auswärtigen Amt in Berlin erhalten hat. Demnach wurden bisher für Personen, die von den Erdbeben betroffen sind, 1333 Visa ausgestellt. "1097 davon waren Schengen-Visa nach dem vereinfachten Verfahren, 236 waren Visa zum Daueraufenthalt im Rahmen des Familiennachzugs", erklärt die Bundesbehörde.