Für einen Moment stockt die Stimme. Seine Augen werden feucht, als Kim Döhling diese eine bittere Frage stellt: „Wann wird der Punkt erreicht sein, an dem es einfach nicht mehr geht?“ Er weiß, dass es darauf keine Antwort gibt. Aber das macht es nur noch schlimmer.
Die Fußballkneipe Taubenschlag, ein paar Schritte vom Weserstadion entfernt, ist Döhlings Leben. 38 Jahre ist er jetzt alt, er hat sie alle im Taubenschlag verbracht. Es ist ein Familienbetrieb. Sein Vater Wolfgang hatte den Laden 1983 übernommen, damals noch mit Werder-Spieler Norbert Siegmann. Die Kneipe ist Kult in Bremen und weit darüber hinaus. Hier wurde Werders Geschichte geatmet und begossen. Jetzt sitzt Döhling zwischen all den hoch gestellten Stühlen und kämpft mit seinen Gefühlen. „Niemand weiß, wie viel Geld man braucht, um Corona zu überleben. Dadurch wird es ganz, ganz schwierig.“
Döhling, das muss man wissen, ist keiner, der früh aufgibt oder immer jammert. Als der erste Lockdown kam, vor einem Jahr, da hat er die Ärmel hochgekrempelt und die Mitarbeiter zusammengehalten. Er gründete mit Kollegen die Bremer-Gastro-Gemeinschaft, der sich schon mehr als 300 Betriebe angeschlossen haben. Sie eint das Ziel, überleben zu wollen. „Wir standen ja alle plötzlich vor dem Nichts“, sagt Döhling, „und jeder fragte sich: Wo bekommt man Hilfe?“ Er selbst engagiert sich im Vorstand der Gemeinschaft, er will sein Schicksal selbst in die Hand nehmen.
Anfangs hoffte er, nur ein paar Wochen überbrücken zu müssen. Vielleicht Monate. Spätestens nach einem Jahr, da war er sicher, würde der Laden wieder normal laufen. „Dass wir jetzt immer noch einen so extremen Lockdown erleben, damit habe ich, bei allem Realismus, nicht gerechnet.“
Döhlings Dilemma ist nicht nur die verrammelte Kneipe, sondern auch das leere Weserstadion nebenan. Als es noch keine Geisterspiele ohne Zuschauer gab, pilgerten Tausende am Taubenschlag entlang. Es gehörte zum Ritual vieler Fans, hier ein Bierchen vor dem Spiel zu trinken oder danach darauf anzustoßen. Wenn im Taubenschlag gezapft wurde, leuchtete das Flutlicht noch. „Wir sind am Pulsschlag des Stadions“, sagt Döhling, „man spürte das Spiel noch, wenn die Fans aus dem Stadion kamen. Im ersten Bier nach dem Schlusspfiff steckte noch so viel Emotion, weil wir direkt um die Ecke sind.“
Jetzt kommt hier kein Fan mehr vorbei. Seit Ende Oktober ist der Taubenschlag ohnehin im zweiten Lockdown, wie alle Gaststätten. Wo sich sonst drei Fans einen Quadratmeter teilten, oft auch mehr, da dürfte selbst mit Abständen und Hygienekonzept keiner mehr rein.
In Spitzenzeiten beschäftigte Döhling 17 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, alles Minijobber, von der Rentnerin bis zur alleinerziehenden Mutter. Inzwischen musste er fast alle ziehen lassen. Es tat ihm in der Seele weh, weil viele von ihnen diesen Job dringend brauchten.
Er selbst lebt nur noch von seinen Ersparnissen. Die laufenden Kosten für den Betrieb wie Pacht, Heizung oder Versicherungen werden zu 90 Prozent durch öffentliche Hilfen gedeckt. Dafür ist Döhling dankbar, doch es gibt einen Haken. „Auf zehn Prozent bleibst du immer sitzen. Jeden Monat. Ein Fehlbetrag, der nur aus eigenen Rücklagen gedeckt werden kann.“
Jeden Monat macht er minus, seit mehr als einem Jahr, der Betrag summiert sich gnadenlos. Und das sind nur die Kosten für den Betrieb. Der private Lebensunterhalt wird durch die Überbrückungshilfen nicht gedeckt. Die Grundsicherung, von der die Regierung immer spreche, hat Döhling abgehakt. „Die Hürden sind so groß, dass nur wenige es schaffen, das zu beantragen.“
Das tägliche Essen, die Miete, die Krankenversicherung: Er bezahlt das alles von dem Geld, das er fürs Alter gespart hat - und auch für seine Lebenspläne. Vielleicht eine Familie gründen, ein Haus kaufen. „Jetzt brauche ich dieses Geld auf“, sagt Döhling. Mit seiner Freundin kaufe er nur noch das Allernötigste. „Ich finanziere mein Leben ohne Einnahmen. Und ich merke, wie mir die Luft ausgeht.“ Er nennt es eine Bombe, die hochgehen könnte, wenn man in ein paar Jahren merkt, dass viele Selbständige in der Corona-Krise ihre Altersvorsorge anfassen mussten, weil dieses Problem in der Politik kein Gehör fand.
Aber ist es richtig, das Gesparte zu plündern? Was käme danach, wenn die Pandemie vorbei ist? Und wann wäre das überhaupt: in Monaten, in Jahren? Es sind die großen Fragen, die Döhling im Moment beschäftigen. Es ist der längste Moment seines Lebens.
Im zweiten Jahr der Pandemie hat er nur noch ein Minimum an Mitarbeitern, die nötig sind, um nicht ohne Personal dazustehen, wenn wieder geöffnet werden könnte. Es war bisher ein ständiges Hin und Her in dieser Krise, und Döhling hat mit seinem Team und anderen Gastronomen viel probiert. In den Sommermonaten betrieben sie gemeinsam einen Biergarten nebenan am Brommyplatz. Die Anwohner waren dankbar. Die Einnahmen halfen, kompensierten aber nicht die Verluste. Mit der Union-Brauerei verkauften sie durchs Fenster Sechserträger Bier, Edition Taubenschlag. Ein Fan kam sogar 50 Kilometer mit dem Fahrrad, um sich das abzuholen. Döhling: „Es war bewegend, wie viel Unterstützung wir von den Leuten erfahren haben.“ Im Winter boten sie Glühwein an, als Teil des Bremer Glühweinwanderweges. „Das waren aber Projekte, an denen wir nicht wirklich Geld verdient haben. Es ging eher darum, zu zeigen: Wir sind noch am Leben.“ Ein Außer-Haus-Verkauf kam für den Taubenschlag nicht infrage, es gibt keine Küche. Die Bremer Kultkneipe steht für Bier, Schnaps und Frikadellen.
Manche Geisterspiele zeigten sie auf einer Leinwand, bevor der erneute Lockdown kam. Aber die Gebühren an den TV-Sender waren so hoch, dass es sich wirtschaftlich kaum gerechnet hat. Wegen der Abstände durften nur 25 Leute rein. Als Werder im Juli in Heidenheim die Klasse sicherte, wurden diese Plätze unter Stammgästen ausgelost.
Schon als es nach dem ersten Lockdown leichte Lockerungen gab, musste Döhling eine schwierige Entscheidung treffen. Ein paar Tische durften sie mit Abständen aufstellen. Aber die Theke sollte geschlossen bleiben. „Wir mussten uns die Frage stellen: Was sind wir überhaupt für ein Laden?“ Seine Antwort: „Wir bringen viele Leute zusammen, die sich oft gar nicht kennen. Gruppen, aber auch einsame Gäste, denen wir einen Platz am Tresen geben. Es hat ja nicht jeder einen riesigen Freundeskreis. Der Tresen ist das Herz einer Kneipe. Wir haben gemerkt: Wenn das Herz stillsteht, können wir nicht öffnen.“
Ohne Kneipenleben stirbt eine Kneipe, so einfach ist das. Mittlerweile gibt es im Taubenschlag zum ersten Mal kein Bier mehr. Alles ist abgelaufen, es wurde nichts mehr bestellt. Die Kühlung ist ausgeschaltet. In all den Jahren drohte nur einmal das Bier auszugehen. 2016 war das, als Werder in letzter Minute gegen Frankfurt den Klassenerhalt schaffte. Die Fans tranken so viel, dass stündlich Nachschub geordert werden musste, aus dem Weserstadion und von befreundeten Gastronomen. Das waren große Zeiten für den Taubenschlag, wie früher, als Maradona mit Neapel in der Stadt war und die Werder-Fans noch Weserwunder oder Titel feierten. Die Fotos an den Wänden zeugen von rauschenden Festen. Mit Fans, Spielern und vielen Promis. Döhlings Vater Wolfgang lächelt zufrieden auf einem der Bilder, mit Wein und Zigarette. Er starb vor fünf Jahren.
Das normale Leben mit all seinen Sorgen hört auch in so einer Pandemie nicht auf. Mitten in der Corona-Krise und der Existenzangst musste er nun auch seine Mutter beerdigen. Wochenlang hatte er sie mit den Geschwistern gepflegt. „All diese Emotionen voneinander zu trennen, war wirklich sehr schwierig.“
An schlechten Tagen hilft ihm der Blick in den Briefkasten. „Wenn neben Rechnungen auch mal Grußkarten von Fans dabei sind, mit ein paar netten Worten, das gibt Kraft“, sagt er, „dann spürt man, wofür man das macht. Man fühlt sich schon sehr alleine in dieser Zeit.“ Sogar auswärtige Fans, die meistens ein Wochenende in Bremen bleiben, hätten schon Tische reservieren wollen für den fernen Tag, wo alles wieder normal ist. Der Taubenschlag gehört für viele dazu. Der Wirt besitzt Fotos von Vätern mit ihren Söhnen: Beim ersten Stadionbesuch hält der Sohnemann noch eine Cola in der Hand, Jahre später trinken beide Bier.
So ein Zapfhahn im Taubenschlag, der misst auch Werders Puls. Nach Siegen machte die Kneipe mehr Umsatz als nach Niederlagen. Auch das war schon ein Problem in den letzten Jahren. Manche Heimspiele waren so schlecht, dass die Leute nach dem Abpfiff an den Kneipen vorbeiliefen. „So extrem hatten wir das lange nicht, dass nicht einmal ein Frustbier drin war“, sagt Döhling.
Bevor Corona kam, war seine größte Sorge, dass Werder mal absteigt. Er hat oft durchgerechnet, was das für ihn bedeuten könnte. „Aber heute“, meint er, „würde ich aus wirtschaftlicher Sicht sogar einen Abstieg in die 3. Liga dieser Corona-Krise vorziehen.“
Die Pandemie hat ihm den Boden unter den Füßen weggerissen. „Vor einem Jahr haben wir uns noch Hoffnungen gemacht. Wir wollten nicht stöhnen, sondern Lösungen suchen“, sagt er, „aber jetzt verschwindet die Perspektive am Horizont. Es ist auch psychisch sehr belastend, dass man den Ausweg nicht mehr sieht. Die ständigen Rückschläge sind ermüdend.“
Wenn ihm wenigstens jemand sagen könnte, wie lange das noch dauert, bis seine Kneipe und das Weserstadion wieder voll sein werden. Dann könnte er eine Entscheidung treffen und planen. Stattdessen hofft er immer auf den nächsten Monat. Oder den übernächsten. Lange ist das nicht mehr durchzuhalten, weiß er: „Wenn du dann gar kein Geld mehr hast, stellt sich die Frage: Hat sich dieser Kraftaufwand gelohnt? Aber dann wäre es zu spät.“
Döhling wird weiter mit seinen Kollegen aus der Bremer-Gastro-Gemeinschaft für eine Zukunftsperspektive kämpfen. Der Taubenschlag ist sein Lebenssinn. Dass sein Kampf sinnlos sein könnte, ist seine schlimmste Befürchtung.
Wenn man den Straßentunnel am Weserstadion durchquert, in Richtung Hamburger Straße und Viertel, läuft man direkt auf die Fußballkneipe Taubenschlag zu. Die Adresse, Auf dem Peterswerder 6, war früher sogar eine noch grünere Anschrift: Nach dem Zweiten Weltkrieg war hier die Geschäftsstelle des SV Werder Bremen, von 1946 bis 1955. Die Büros des Vereins waren im ersten Stock, gleich über der Gaststätte.
Werder-Profi Norbert Siegmann, der die Kneipe 1983 gemeinsam mit dem inzwischen verstorbenen Gastwirt Wolfgang Döhling übernommen hatte, stieg nach kurzer Zeit wieder aus, auch auf Druck seines damaligen Trainers Otto Rehhagel. „König Otto“ und seine Frau Beate hatten es nämlich gar nicht gerne gesehen, dass einer ihrer Spieler nebenher am Tresen stand und auch seine Mitspieler gerne mal hier vorbeischauten.
Der Name Taubenschlag stammt aus einer noch früheren Zeit. Der Bruder eines vormaligen Besitzers der Kneipe züchtete Tauben, weshalb dieses Federvieh überall im Gastraum ausgestopft herumstand. Heute, im zweiten Jahr der Pandemie, geht es hier nun wirklich nicht mehr zu wie im Taubenschlag.