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Essay zur Migrationspolitik Deutschland übernimmt sich

In vielen deutschen Städten sind die Notunterkünfte für Flüchtlinge wieder voll, ein Ende des Zustroms ist nicht absehbar. Verantwortungsvolle Politik muss jetzt handeln, meint Jürgen Theiner.
09.10.2022, 07:00 Uhr
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Deutschland übernimmt sich
Von Jürgen Theiner

Schaffen wir das noch mal? Die Aufnahme vieler Tausend neuer Flüchtlinge bereitet Deutschlands Kommunen immer größere Probleme. Gäbe es nicht den Ukraine-Krieg, die Energiekrise und die galoppierende Geldentwertung, dann würde dieses Thema seit Wochen die Schlagzeilen beherrschen: Die Zahl der Schutzsuchenden nähert sich scheinbar unaufhaltsam der Größenordnung von 2015/16. Nicht nur Ukrainer kommen. Auch aus anderen Regionen – unter anderem aus Nordafrika, Syrien und dem Westbalkan – drängen wieder mehr Menschen nach Deutschland. Aktuell sind es so viele, dass der Präsident des Deutschen Städtetags, Münsters Oberbürgermeister Markus Lewe (CDU), bereits Mitte September vor einer ernsten Zuspitzung der Lage warnte. Im Winter werde man "Neuankömmlinge voraussichtlich wieder in Hotels, Turnhallen oder anderen Einrichtungen unterbringen müssen", prophezeite Lewe. Seither hat die Lage eher noch an Dynamik gewonnen. In Bremen kamen im laufenden Jahr bisher rund 9000 Personen an. Das bisherige Maximum von 10.000 Flüchtlingen aus dem Jahr 2015 dürfte damit übertroffen werden.

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Wie sich das vor Ort auswirkt, kann man gerade in der Überseestadt besichtigen. Dort sind Hunderte Migranten in Großzelten untergebracht, und gleich nebenan entstehen Leichtbauhallen für bis zu 1200 weitere Personen. Die normalen Kapazitäten in Übergangswohnheimen und Landeserstaufnahmestellen sind längst erschöpft. Für Sozialsenatorin Anja Stahmann (Grüne) ist die Sache klar. "Die Aufnahme ist alternativlos, auch wenn sie mit immensen Herausforderungen für alle Systeme verbunden ist", sagte sie vor wenigen Tagen im Gespräch mit dem WESER-KURIER.  Gemeint sind unter anderem Kitas, Schulen, Wohnungsmarkt und Gesundheitswesen. Aber ist ein weiterer gesellschaftlicher Kraftakt wie 2015/16 wirklich alternativlos? Darf man ihn Deutschland in der aktuellen Situation zumuten?

Eines vorweg: Wer wie Hunderttausende Ukrainer vor einem Krieg flieht, muss Anspruch auf zeitweiligen Schutz haben. Aber längst nicht alle, die gegenwärtig ins Land kommen, stammen aus den Kampfzonen vor Charkiw oder Cherson. Es sind zunehmend Armutsmigranten. Das ist, nüchtern betrachtet, kein Stigma, sondern eine objektive Tatsachenbeschreibung. Und natürlich kann man es keinem Bewohner Libyens, Syriens, Iraks oder sonstiger Ausgangspunkte aktueller Flüchtlingsbewegungen verübeln, für sich und seine Familie ein besseres Leben in einem anderen Land anzustreben. In einem Land, in dem die alltäglichen Dinge funktionieren. In dem man keine unmittelbare materielle Not leidet, in dem es ein gutes Gesundheitswesen gibt, in dem man auf Amtsstuben kein Schmiergeld für behördliche Dienstleistungen entrichten muss. Diese Dinge sind leider nicht überall auf der Welt selbstverständlich. Es gibt eine wachsende Zahl von "Failed states", von Ländern also, in denen der Staat seine Aufgaben nicht erfüllt und keine Wende zum Besseren erkennbar ist. Und genau das ist das Problem. Die Zahl der Menschen, die in solchen Ländern leben und mobil genug sind, ihre Heimat zu verlassen und sich nach Europa aufzumachen, ist riesengroß. Sie übersteigt bei Weitem das Integrationsvermögen der Zielstaaten, von denen Deutschland mit Abstand der attraktivste zu sein scheint.

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Auch wer großes Mitgefühl für diejenigen empfindet, die ihrem Elend entkommen wollen, wird das einräumen müssen. Es sind die nackten Zahlen. Würde Deutschland etwa in einer weiteren "Wir-schaffen-das"-Kraftanstrengung eine Million Armutsflüchtlinge aus afrikanischen Krisenstaaten willkommen heißen – die gleiche Zahl von Menschen käme dort innerhalb von zwei Wochen zur Welt. Zugleich würde man aber Deutschland einer gesellschaftlichen Zerreißprobe aussetzen. Unser Land ist nach zwei Jahren Pandemie und angesichts eines brutalen Krieges in der Nachbarschaft samt gravierender wirtschaftlicher Folgeerscheinungen zutiefst erschöpft und gestresst. Man merkt es den Menschen an. Es liegt eine angespannte Stimmung über dem Land, in manchen Familien herrscht blanke Existenzangst. Dort würde man wohl anerkennen, dass die eigenen Probleme objektiv nicht so elementar sind wie in den "Failed states" Nordafrikas oder Vorderasiens. Aber die Bereitschaft, bei der Aufnahme von Flüchtlingen erneut zusätzliche Lasten zu schultern, geht in der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung ganz klar gegen null. Da sollten sich unsere Politiker nichts vormachen.

Doch gerade in Bremen mit seiner linksliberal geprägten politischen Kultur ignoriert man die Probleme unregulierter Zuwanderung immer schon nach Kräften. Etwa im Schulbereich. Dort gelingt es nur noch unter größten Mühen, überhaupt genügend Plätze in den Klassenzimmern bereitzustellen. Dort sitzen dann in wachsender Zahl Kinder und Jugendliche, die kein Deutsch sprechen und zum Teil aus Weltregionen stammen, in denen Bildung keinen großen Stellenwert genießt. Solch schlechte Startvoraussetzungen wettzumachen, würde ganze Heerscharen zusätzlicher Lehrer und Sozialpädagogen erfordern – die es aber nicht gibt und die Bremen auch gar nicht im erforderlichen Umfang bezahlen könnte. Dass der Stadtstaat in Bildungsvergleichen seit Jahren auf dem letzten Platz festgenagelt ist, hat nicht nur, aber auch mit den besonders weit ausgebreiteten Armen zu tun, mit denen man hier Migranten aufnimmt.

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Wer solche Blauäugigkeit kritisiert, wird schnell als kaltherzig oder gar rassistisch diskreditiert. Doch das ist ungerecht. Eine realistische Einschätzung der gesellschaftlichen Verträglichkeit von Zuwanderung hat nichts mit Rassismus zu tun. Es darf nicht so weit kommen, dass sich die Mitte der Gesellschaft frustriert von der Politik abwendet oder in einer Abwehrreaktion nach rechts schwenkt, wie es gerade erst in Schweden und Italien passiert ist. Die Armutsmigration nach Deutschland muss deshalb gedrosselt werden. Kurzfristig an den EU- und nationalen Grenzen. Mittel- und langfristig durch deutsches und europäisches Engagement in den Herkunftsländern. Denn Zuwanderung zu regulieren, heißt ja nicht, ansonsten die Hände in den Schoß zu legen. Ganz im Gegenteil. Deutschland und die EU verfügen über großes ökonomisches Gewicht. Dies gilt es einzusetzen für die Verbesserung der Lebensbedingungen in jenen Ländern, in denen die Menschen derzeit noch mit den Füßen abstimmen. In der Vergangenheit wurde leider oft das Gegenteil gemacht. Wenn etwa die Überschüsse der europäischen Agrarindustrie zu Dumpingpreisen auf westafrikanischen Märkten landeten, ließ sich eigentlich absehen, dass man dadurch die Grundlagen bäuerlicher Landwirtschaft in diesen Ländern untergräbt und Existenzen vernichtet. Eine radikale Neuausrichtung der internationalen Entwicklungszusammenarbeit ist deshalb nötig. Reiche Länder müssen bereit sein, fair zu teilen und so das Wohlstandsgefälle nach und nach einzuebnen. Nur so lässt sich Armutsmigration dauerhaft wirksam reduzieren.

Kurzfristig den Zustrom zu bremsen und gleichzeitig an die Wurzeln des Problems zu gehen, ist der einzig rationale Ansatz. Was nicht hilft, ist die Vorstellung, man könne die Armut auf der Welt dadurch lindern, dass man eine möglichst große Zahl von Betroffenen nach Deutschland holt. Das wird nicht funktionieren, das ist deutsche Hybris, diesmal von links. Wer  unkontrollierte Zuwanderung zulässt oder für "alternativlos" erklärt, fördert die latente Staatsverdrossenheit in breiten Schichten und gefährdet nebenbei auch die Akzeptanz des Asylrechts als zivilisatorischer Errungenschaft. Deutschland muss weiter eines der Länder sein, die an Leib und Leben bedrohten Menschen zeitweilige Zuflucht gewähren. Das geht aber nur, wenn sich Deutschland bei der Zuwanderung insgesamt nicht übernimmt. Gerade sieht es so aus, als könnte genau das passieren.

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