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Essay über Klischees Raus aus der Schublade

Wir brauchen sie, um uns die Welt zu erklären. Aber Schubladen schränken auch unsere Urteilsfähigkeit und unsere Neugier ein. Wie wir offener werden können und was wir dabei zu verlieren haben.
29.05.2023, 09:39 Uhr
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Raus aus der Schublade
Von Monika Felsing

Ganz schön eng und stickig hier drinnen. Wer schon einmal in eine Schublade gesperrt worden ist, kennt das Gefühl. Kaum Luft, um frei zu atmen, kein Platz, sich zu entfalten, und nicht die geringste Chance, fremden Erwartungen zu entgehen. Umso erstaunlicher, dass immer mehr Menschen freiwillig in Schubladen steigen und sich darin verbarrikadieren. Manche von ihnen halten sich für originell, obwohl die Welt schon bessere Kopien gesehen hat. Und echte Unikate.

Wer Schubladen baut, will, dass die Dinge so bleiben, wie sie sind, und die Menschen mit ihnen. In den Sechzigern galt: Romy Schneider hatte für immer Sissi zu sein. Echte Männer gingen zur Bundeswehr. Und Omas hielten sich von Demos fern. Einige alte Schubladen haben ausgedient, andere aber werden mit Gewalt restauriert, und zahlreiche neue Kisten und Kästen sind dazu gekommen, in die Menschen sortiert werden. Mehr, als Eisen Werner in Hemelingen für Schrauben und Muttern hatte.

Kerker und Kuschelecke

Es braucht einen Lästerlyriker, um sich darüber angemessen lustig zu machen. "Schublade auf, und rein mit dir", sang Hans Scheibner (1936-2022) in den Achtzigern. "Schublade zu, und weg bist du!" Katholik, Kommunist, Polizist, Unternehmer, Arbeitsloser, Schrebergärtner, alle landen in der Lade. Fehlen noch Deutsche mit Wurzeln in anderen Ländern, Feministinnen, Weißhaarige, Ossis, Wessis, Journalistinnen, Handyabhängige, Transsexuelle, Veganerinnen, Menschen mit Hund, SUV-Fahrer, Klimaschützerinnen und viele, viele mehr, denn wir alle sitzen in mehreren Schubladen gleichzeitig – und in keiner allein. "Ist denn das denn nicht schön?", erkundigte sich Scheibner, und nicht aus Mitgefühl. "Sie haben keine Lust mehr? Ja, so sehen Sie aus! Wenn Sie erst mal drin sind, kommen Sie auch nicht wieder raus."

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Nicht jede Schublade gleicht einem Kerker. Manche ähneln Barockschlössern, Fußballstadien oder Kuschelecken. Wir brauchen sie, um auszudrücken, wie wir die Welt sehen, wer wir sind oder sein wollen, und riskieren dabei, unsere Neugier einzubüßen und andere Menschen nur noch als Typen wahrzunehmen. Die Punkmusikerin Tina Müller alias Tyna hat mit den "Omas gegen rechts" ein Musikvideo dazu aufgenommen: "Jede ist sie selbst und einzigartig", ist ihre Botschaft. "Jede ist gleich, böse und artig, aufregend und langweilig, stark und schwach, mutig und ängstlich, müde und wach. Jeder malt sich an, auch ohne Make-up. Nur eine Frage der Zeit, bis auch ich dich ertapp. Jeder baut sich ein eigenes Ich, und deshalb lass uns nicht ins Schema passen." Und, da gibt's für Tyna kein Vertun: "Gegen Schubladendenken ist niemand immun."

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Ob Klischee oder Etikett, ob Geschlecht, sexuelle Identität, Schicht, Kaste oder Klasse: Es ist ein riesiger Unterschied, ob Menschen ihre Schubladen wählen und verlassen können oder ob ihnen das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit genommen wird wie den Frauen und Mädchen in Afghanistan und im Iran. Der Fundamentalismus kommt mit zwei Schubladen aus: wir und die anderen.

So gesehen, kann die Zahl der Schubladen ein Zeichen für Vielfalt sein. Eine Garantie für Toleranz aber ist sie nicht, denn auch manche bornierten Menschen haben Fantasie und Fanatiker nie genug Ziele für ihren Hass. In der NS-Zeit wurden Kommunisten, Sozialdemokratinnen, Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, Pazifistinnen und andere als "Volksschädlinge" gebrandmarkt und gejagt. Nach 1945 trafen manche dann in Behörden und bei Gericht diejenigen wieder, die ihnen nach dem Leben getrachtet hatten und wieder bereit waren, sie abzustempeln und wegzusperren. Wie Willy Meyer-Buer (1911-1997). Der kommunistische Bremer Bürgerschaftsabgeordnete, ein Widerstandskämpfer, wurde für seine politische Überzeugung auch in der Bundesrepublik verurteilt, während Kriegsverbrecher in Roben und Uniformen ihre Karrieren fortsetzten.

Sein Anwalt Heinrich Hannover (1925-2023) war einer der seltenen Menschen, die in keine Schubladen passen. Umso wütender versuchten seine Gegner, ihn in eine zu sperren. Seine Sachbücher "Die Republik vor Gericht" und "Reden vor Gericht" vermitteln ein Bild davon. Er war ein Kämpfer für Demokratie und Gerechtigkeit, vom Verfassungsschutz überwacht, ein erfolgreicher, uneitler Strafverteidiger, ein humorvoller Familienmensch, ein Gelehrter, der Anklamer Platt und Mozart liebte, Kinderbücher ("Das Pferd Huppdiwupp") schrieb und vor seinem Tod noch einen letzten Tango komponierte: Heinrich Hannover war all das – und ließ sich nicht vereinnahmen.

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Schubladen aufzuziehen, kostet Überwindung. Eine Kampagne von "Aktion Mensch" will uns alle dazu ermuntern. In der Youtube-Serie "Frag ein Klischee!" sind sämtliche Fragen erlaubt, auch die peinlichen. Geantwortet haben unter anderem ein Soldat, eine Muslima, eine Drag-Queen, ein Kleinwüchsiger, ein Obdachloser und ein Mann mit Tourette-Syndrom. Das Projekt dahinter nennt sich "Hyperbole TV" und "entwickelt, produziert und verbreitet glaubwürdigen Video Content für die Generationen Y & Z", wie auf der Website steht. "Mit einer provokanten Vermischung von Politik und Popkultur treffen wir den Nerv einer Generation, die wie keine andere vor ihr kritisch konsumiert." Und wieder geht eine Schublade auf.

Es wäre zu verlockend, jetzt pauschal über kritisch konsumierende 20- bis 40-Jährige herzuziehen, die den Einzelhandel für einen Amazon-Ableger halten, Elon Musk für den netten Milliardär von nebenan und die FDP für eine Zukunftspartei. Aber die Retourkutsche ist längst vorgefahren: 2012 berichtete der Deutschlandfunk über "die niederen Zwänge der Erbengeneration" und meinte die Generation X, auch Generation Golf oder Generation Laminat genannt. Letzteres, weil sich bereits abzeichnete, dass der Wohlstand abnimmt. Deutsche der Jahrgänge 1965 bis 1980 galten wahlweise als „Postmaterialisten“, „Öko-Spießer“, „Latte-Macchiato-Fraktion“ oder „Lohas“, als Menschen, die einen "Lifestyle of Health and Sustainability" führen, also auf Gesundheit und Nachhaltigkeit achten. "Wohlstandsbürger, zwar in den besten Jahren, aber immer noch auf Sinnsuche, die mit hohen Selbstverwirklichungsansprüchen durchs Leben laufen." Und sich Illusionen über ihre eigene Toleranz machen.

Murat, Marvin oder Mats: Dass die Herkunft Einfluss darauf hat, wie Menschen wahrgenommen werden, bestreitet heute niemand mehr. Also lernen Lehrkräfte, Polizeibeamtinnen und Personalchefs in Workshops, offener zu sein. Die Initiative Klischeefrei, ein von der Bundesregierung ins Leben gerufenes Bündnis, kämpft gegen Geschlechterklischees bei der Berufs- und Studienwahl an. Und in Projekten wie "Leidmedien.de" wird trainiert, klischeefrei zu schreiben "über Menschen mit Behinderung" und Formulierungen zu vermeiden wie "an den Rollstuhl gefesselt", "meistert ihr Schicksal tapfer" oder "trotz Behinderung berufstätig". Dank Blaumeier hat Bremen anderen Städten da einige Oho-Erlebnisse voraus: Sein "Chor Don Bleu" und die anderen Gruppen des Ateliers machen aus Schubladen Kleinholz – und werden dafür geliebt.

Neo-Biedermeier

Warum denken wir in Schubladen, wenn uns dabei so viel entgeht? Weil es bequem ist. Bei Tiktok, in der Wirtschaft und in der Politik kann es außerdem ein Erfolgsrezept sein, eine zu besetzen. Weniger Ambitionierte machen es sich in ihrer kleinen, heilen Schubladenwelt mit Familie und Freunden gemütlich. Und pflegen Rituale, als hätten alle den gleichen Film gesehen. "Neo-Biedermeier" nennt das Zukunftsinstitut mit Sitz in Hessen, das sich seit 1998 mit "Trends und Mega-Trends" befasst und Haushaltsgerätehersteller zu seinen Auftraggebern zählt, diesen konservativen unter den 18 aktuellen Lebensstilen. Und verkündet: "Die Zielgruppe ist tot. Es lebe der Lebensstil!"

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So hip es auch sein mag, einem Mega-Trend zu folgen: Insgeheim bewundern wir doch die Menschen am meisten, die nicht zu fassen sind. Die lächelnd aus der Schublade steigen, in die wir sie so mühsam gequetscht haben, und uns überraschen. In solchen Augenblicken dämmert es uns, dass auch wir frei sind und eine Wahl haben. Wenn wir unsere eigenen Schubladen nur weit genug aus der Kommode ziehen, so weit, dass sie beinahe kippen, ist es drinnen weder eng noch stickig. Es ist wahr, so ein Balanceakt ist gefährlich. Aber nur für unsere Vorurteile.

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