Ein X ist kein U. Auch wenn es so daherkommt. Scheinbar harmlose Mails legen heute ganze Firmen lahm. Betrüger werden am Telefon zu Kriminalbeamten. Gefälschte Videos wirken lebensecht. Nicht einmal uns selbst können wir hundertprozentig vertrauen, denn unsere sieben Sinne lassen sich täuschen, und zu gern machen wir uns selbst was vor. Umso wichtiger wird das Gespräch, das Hinterfragen von Aussagen, das Überprüfen von Quellen. Manchmal auch die Einsicht: Es gibt deine Version, meine Version, die Wahrheit und das, was wirklich passiert ist.
Im Grunde wissen wir also nicht nur, dass wir nichts wissen, sondern auch, dass vieles anders ist, als es scheint, und dass es für nichts im Leben Garantien gibt. Aber wem vertrauen wir noch und weshalb? Wer kann auf uns bauen? Und wie gehen wir mit Fehlern um? So individuell wie die Antworten, so bedeutsam sind solche Fragen für die Demokratie und den Frieden. Schon 2006, während der Großen Koalition, war das Vertrauen der Deutschen in die freieste aller Staatsformen erschüttert. „Der Glaube an die Gerechtigkeit des Systems schwindet“, meldete der „Spiegel“ und klang alarmiert: Erstmals zweifle die Mehrheit der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger an der Demokratie! Und das war erst der Anfang.
Es wird Zwietracht gesät
Die Banken-, die Klima-, die Corona- und die Energiekrise, der Bildungs- und der Pflegenotstand, die Inflation und der Ukraine-Krieg haben weiteres Vertrauen zerstört. Mit großem Aufwand versuchen antidemokratische Kräfte, Menschen zu verunsichern, indem sie Institutionen in Verruf bringen, die eine friedliche, freie Gesellschaft zum Überleben braucht. Weltweit werden Wahlen beeinflusst. Journalistinnen, Juristinnen und Virologen werden verleumdet, Bürgerinitiativen, Kabarettistinnen und Blogger mit Hassmails überzogen, Polizeibeamte, Whistleblower, Abgeordnete und Kommunalpolitiker bedroht. Es wird Zwietracht gesät, Angst verbreitet. Fehlt eigentlich nur noch das sogenannt gesunde Volksempfinden, diese leicht zu manipulierende Mischung aus Nichtglauben und Nichtwissenwollen, Zielgebiet ganzer Trollarmeen. Und die ideale Geschäftsgrundlage für Gerüchtekanäle wie den von Julian Reichelt.
Misstrauen kann auf die Dauer jede Beziehung zerstören, lehrt die Erfahrung. Und Zweifel ersetzen kein Argument. Aber das ist eben nur die eine Seite der Medaille. Zweifel lassen uns überhaupt erst nach Wahrheit und Sinn suchen, sie halten uns davon ab, eine Sendung wie die von Reichelt auch nur halbwegs seriös zu finden oder an die eigene Unfehlbarkeit zu glauben. Es sei denn, wir heißen Wolfgang Kubicki und sind Bundestagsvizepräsident.
Nur wenige Menschen können sich auf ihr Bauchgefühl verlassen. Oder wenigstens auf ihren Geschmack. Kleinkinder der Sechziger konnten beides, doch kaum hatten sie den bitteren Spinat an die Wand gespuckt, kam wie am Fließband schon die nächste Ladung: "Ein Löffel für Mami, ein Löffel für Papi..." Widerstand war zwecklos, denn die Großen hatten immer recht, zumindest außerhalb von Kinderläden, in denen niemand seinen Teller aufessen musste, geschweige denn, was drauf war. Die Mütter von damals handelten in gutem Glauben: Spinat galt als eisenreich. Das hatte ein deutsch-baltischer Professor 1890 an Spinatpulver nachgewiesen. Weil aber frischer Spinat wie so vieles auf der Welt zu etwa 90 Prozent aus Wasser besteht, rutschte das Komma irgendwann um eine Stelle nach vorn. Seitdem ist Spinat nicht nur kein Wundergemüse mehr, sondern wird wegen des Nitrats für Kinder unter sechs Monaten nicht empfohlen. Schon gar nicht aufgewärmt.
Nicht oft genug kann eine wahre Geschichte aus dem Kalten Krieg erzählt werden, die dank Glasnost (Offenheit) bekannt geworden ist: In der Nacht vom 25. auf den 26. September 1983 herrscht Alarmzustand in einer Satellitenüberwachungsanlage südlich von Moskau. Das Frühwarnsystem meldet den Start einer US-Atomrakete. Der leitende Offizier Stanislaw Petrow stutzt: Kann das sein? Reagan mag die Sowjetunion das "Reich des Bösen" nennen, und die Lage ist angespannt, seit die Sowjets ein südkoreanisches Flugzeug abgeschossen haben. Aber sollten die Amerikaner wirklich mit einer einzelnen Rakete angreifen? Unwahrscheinlich, sagt sich der Ingenieur, meldet dem Generalstab einen Fehlalarm und beharrt darauf, obwohl die Systeme vier weitere nukleare Geschosse registrieren. 18 Minuten verstreichen, in denen die Welt nicht untergeht. Was der sowjetische Satellit für Raketen gehalten hatte, war Morgenlicht, das sich an Wolken spiegelte. Nenas 99 Luftballons. "Das Schlimmste in dieser Nacht war, dass ich massive Zweifel hatte, ob meine Entscheidung richtig war", wird Stanislaw Petrow 2006 vor den Vereinten Nationen sagen. "Aber zum Glück war sie es." Bis zu seinem Lebensende warnt er vor der Gefahr eines Atomkriegs.
Absolute Sicherheit gibt es nicht, absolute Offenheit ebenso wenig. Trotzdem sind täglich Entscheidungen zu treffen, meist kleine, manchmal dramatische. In einer Pandemie kann eine Regierung nicht darauf warten, dass ein Virus ausreichend erforscht ist. Fehlt ihr der Mut, Fehler zu riskieren, steht deutlich mehr auf dem Spiel als die Wiederwahl. Wären Verhandlungen nur mit verlässlichen Staaten denkbar: Wozu noch Diplomatie? Und so sehr die Wissenschaft auch nach Erkenntnis strebt: Die Natur gibt nicht alle ihre Geheimnisse preis. Der gläserne Mensch ist ihr fremd.
So viel Ungewissheit ist schwer auszuhalten. Schon deshalb zählen in Filterblasen Mythen mehr als Sachbeweise. Je steiler eine These, je unwahrscheinlicher eine Behauptung, desto mehr Klicks. Als Warnzeichen nennt die Bundeszentrale für politische Bildung „Panikmache oder Verharmlosung, Verweis auf angebliche Bekannte oder ,Fachleute‘, anonyme Quellen und ,Geheimtipps‘“.
Das gemeinnützige Recherchezentrum Correctiv, der Faktenfuchs des Bayerischen Rundfunks und andere überprüfen Nachrichten, Bilder und Zitate auf ihre Echtheit, Quellen auf ihre Seriosität. Trau, schau, wem! Was vom Europäischen Institut für Klima und Energie (EIKE) verbreitet wird, hat beispielsweise selten oder nie Bestand, denn EIKE ist kein wissenschaftliches Institut, schon gar keine europäische Instanz, sondern eine Lobbyorganisation. Und die deutsche Ausgabe von „Russia Today“ (RT DE), im Internet weiter erreichbar, hat mit Journalismus so viel gemein wie der Kopf der russisch-orthodoxen Kirche, Kyrill I., mit dem Dalai Lama und Google mit Datenschutz.
Wie die Gehirnwäsche in Russland seit dem Ukraine-Krieg abläuft, zeigt die Reihe „Fake News“ des unabhängigen russischen Kanals Doschd (Regen) auf Arte. „Behaltet inmitten dieses Wahnsinns einen klaren Kopf und informiert euch. Wir geben unser Bestes, euch dabei zu helfen“, sagt die Journalistin Masha Borzunva am Ende einer Sendung. Nicht von ungefähr nennt sich Doschd auch "der optimistische Kanal". Der russische Schauspieler Jewgenij Mironow hat ihn schon 2020 zu schätzen gewusst. Er sei mit Doschd nicht immer einverstanden, räumte der Star in einem Glückwunschvideo zum Zehnjährigen ein. „Doch was für ein Glück, dass ich die Möglichkeit habe, nicht zuzustimmen, zu streiten. Und dass das in zivilisierten Bahnen abläuft. Die Fähigkeit, einander zuzuhören, gibt es in unserem Land einfach nicht.“ Seit März 2022 sendet Doschd aus dem Exil, seit diesem Jahr mit niederländischer Lizenz aus Amsterdam.
Wahrheit kommt ans Licht
Objektives von Subjektivem, Wahrheiten von Lügen und Journalismus von Propaganda zu unterscheiden, einander zuzuhören, Argumente abzuwägen und mit Anstand zu streiten, all das ist schneller verlernt als eingeübt. Glücklicherweise bringen sich moderne Scharlatane und Demagoginnen im Laufe der Zeit selbst um ihre Glaubwürdigkeit, indem sie immer wieder Dinge behaupten, die keiner Überprüfung standhalten. Das spricht sich dann sehr schnell herum. Auch dank journalistischer Recherche und Kommentierung.
Manchmal aber dauert es sehr lange, bis die Wahrheit ans Licht kommt. Der Mythos vom Superspinat hielt sich fast 90 Jahre. Und heute ist gesichert, was manches Kind in den Sechzigern ahnte: Niemand hat immer recht. Wer keine Fehler zugibt, ist mit Vorsicht zu genießen. Und Spinat enthält weniger Eisen als manche Schokolade.