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Friedensbeauftragter der BEK "Ich würde die Taurus-Lieferung begrüßen"

Der Bremer Pastor Andreas Hamburg besucht demnächst seine Heimatstadt Odessa - im Interview verrät er, was ihn mit Blick auf die Ukraine bewegt und wo er Hoffnung sieht.
22.10.2023, 06:55 Uhr
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Von Joerg Helge Wagner

Sie fahren als sechsfacher Vater demnächst nach Odessa, also in ein Kriegsgebiet. Was sagt Ihre Familie dazu?

Andreas Hamburg: Meiner Frau habe ich erst einmal ganz vorsichtig erzählt, dass ich eine Einladung aus Odessa erhalten habe. Und sie hat ohne Zögern einfach gesagt: Fahr hin. Das hat mich zunächst gewundert, aber dann habe ich mich rasch entschieden, zu fahren. Einerseits beneidet mich meine Frau, denn ihr Herz ist auch zum Teil dort geblieben und einige unserer Kinder sind dort aufgewachsen. Andererseits wissen wir beide, dass dort Raketen und Drohnen durch die Gegend fliegen. Doch es leben rund eine Million Menschen in Odessa, und für die ist jeder Besuch von außen ein Zeichen der Verbundenheit.

Bei einem Pastor setzt man Gottvertrauen voraus. Dennoch: Beschäftigt Sie gar nicht der Gedanke, verletzt oder getötet zu werden?

Gottvertrauen ist manchmal eine schöne Ausrede für Dämlichkeit, da gibt es einen ganz schmalen Grat. Natürlich habe ich Gottvertrauen, und ich sehe auch eine göttliche Fügung, dass ich überhaupt eingeladen worden bin. Um die Menschen dort mehr zu verstehen, sollte man schon vor Ort sein. Dann kann ich auch authentischer hier in Bremen darüber berichten.

Sie gestalten in Odessa den Festgottesdienst zum 220-jährigen Bestehen der lutherischen St.-Paul-Kathedrale. Warum ist das wichtig in diesen Zeiten?

In diesen sehr turbulenten Zeiten braucht man etwas Festes, eine Immobilie im eigentlichen Sinn dieses Wortes. Diese Kirche strahlt eine gewisse Standhaftigkeit aus. Sie war lange eine verbrannte Ruine, ein Schandfleck in der Stadt. Und dann wurde sie wieder aufgebaut.

Wie die vor Kurzem von den Russen zerbombte orthodoxe Kathedrale.

Genau, und die wurde auch schon einmal in den 1920er Jahren komplett zerstört. Die wieder aufgebaute St.-Paul-Kathedrale ist auch ein Sinnbild für das, was wir uns für die Ukraine wünschen, nach diesem Krieg. Sie hat alles überdauert: den Terror der 1930er Jahre, den Zweiten Weltkrieg, die aus verständlichen Gründen anti-deutsche Stimmung danach. Für mich ist diese Kirche ein Wahrzeichen der Hoffnung.

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Sie waren selbst Pastor dort, 2009 bis 2014. Warum haben Sie die Ukraine verlassen?

Eigentlich wollten wir die Ukraine gar nicht verlassen, aber mein Vertrag mit der Bayerischen Landeskirche, die meine Stelle finanziert hatte, war ausgelaufen und wurde nicht verlängert. Auch, weil der neu gewählte Bischof von Odessa sich weitgehend von den deutschen Mitarbeitern distanzieren wollte.

War das eine persönliche Sache von ihm?

Sicher auch, weil ich sein Gegenkandidat bei der Wahl war, und ich hatte nur zwei Stimmen weniger als er. Zudem vertrat er sehr konservative Positionen zu Frauen-Ordination, Akzeptanz von Homosexuellen und so weiter.

Mit so etwas musste sich ja auch die Bremische Evangelische Kirche (BEK) schon befassen.

In Odessa war das noch eine Spur heftiger. Da gab es ganz klare hierarchische Strukturen, er hat sehr vertikal gedacht, stark geprägt von den Erfahrungen in der Sowjetunion. Ihm passte auch nicht, dass wir als Kirche 2013/14 die "Orangene Revolution" des Volkes mit Leib und Seele unterstützt hatten.

Die BEK hat gleich zwei Friedensbeauftragte: neben Ihnen noch Pastor Jasper von Legat. Warum ist das so?

Göttliche Fügung, Zufall oder beides: Er hat sich auf die Stelle beworben, ich ebenso. Er bringt seine tiefe Verankerung im bremischen Bereich mit, meine Qualitäten liegen in der Friedensarbeit im Bereich der Ökumene.

Und Sie kennen auch die andere Seite, die Welt des Militärs.

In der Sowjetzeit hatten wir schon in der Schule eine vor-militärische Ausbildung. Jede Woche zwei Stunden, inklusive politischer Schulung: Im Westen wohnen die Bösen, im Osten die Guten. Dann bin ich nach Deutschland ausgewandert und habe hier Theologie studiert. Später war ich wieder in der Ukraine unterwegs und habe wunderbare Momente der Versöhnung erlebt. Auf den Soldatenfriedhöfen, auf denen auch Wehrmachtsangehörige liegen: in Charkow mit 37.000 Gefallenen, auf der Krim mit 25.000 Gefallenen. Da haben Menschen erstmals an den Gräbern ihrer Väter, Großväter oder Onkel gestanden. Ich habe die ukrainischen, vormals sowjetischen, Veteranen erlebt, die mit den früheren Gegnern und deren Nachkommen gemeinsam Gottesdienste feierten.

Welchen Eindruck hinterließ das bei Ihnen?

Das hat mich so bewegt, dass ich zu einem entschiedenen Pazifisten wurde. Denn Frieden ist möglich, Versöhnung ist möglich. Diese Erfahrung wollte ich auch in die Friedensarbeit der BEK einfließen lassen. Also hat die BEK uns beide genommen, und wir beide verstehen uns wunderbar, auch wenn wir nicht immer einer Meinung sind.

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Offenbar gibt es unterschiedliche Sichtweisen auf den Ukraine-Krieg. Was wäre für Sie ein gerechter Frieden?

In der jetzigen Situation kann man darüber nur aus Sicht der Ukraine sprechen, denn ihre territoriale Einheit und Unabhängigkeit wurde verletzt. Das Staatsgebiet in den Grenzen von 1991 muss wiederhergestellt werden und die Waffen müssen schweigen. Das ist aber nur der erste Schritt, denn mit dem Ende der Kampfhandlungen wird noch kein Frieden einkehren.

Aber schon dieser erste Schritt hieße: kompletter russischer Abzug von der Krim und aus dem Donbass.

Ich sehe aus ukrainischer Sicht keine Alternative und keinen Verhandlungsspielraum. Nach all den Verlusten an Menschenleben, den Zerstörungen und Vertreibungen, den Entführungen nach Russland kann die Regierung in Kiew nicht sagen: Wir ziehen jetzt irgendwo eine neue Grenze, die auch in Russland konsensfähig ist. Da würde kein Frieden einkehren - es müssen gerechte Verhältnisse auch auf der politischen Ebene geschaffen werden. Nur dann kann später Versöhnung stattfinden.

Ist das mit dem herrschenden Regime in Russland denn möglich?

Ich fürchte nicht. Tyrannen kommen und gehen, und ich hoffe, dass die Zeit von Wladimir Putin und seinen Unterstützern irgendwann zu Ende sein wird. Ich hoffe sehr, dass irgendwann in Russland Demokratie auch von innen her entstehen kann. Heutzutage allerdings ist das kaum möglich.

Also sind wir wieder beim Gottvertrauen?

Ich glaube, das russische Volk wird irgendwann begreifen, dass diese sogenannte „Spezialoperation“ auf Putins Lügen basiert.  Es gibt keine Nazis und keine systematische Verfolgung von Russen in der Ukraine. Ich habe selbst dort gelebt und nur russisch gesprochen, denn die Stadt ist aufgrund der sowjetischen Unterdrückung der ukrainischen Sprache eine russisch sprechende Stadt. Da wurde und wird niemand verfolgt.

Aktuell bittet die Ukraine Deutschland um Marschflugkörper vom Typ Taurus. Liefern oder verweigern?

Liefern, ganz klar. Da kann ich sogar biblisch argumentieren: Wenn ein Kind von Dir Brot verlangt, wirst Du ihm nicht einen Stein geben. In dieser Situation befindet sich die Ukraine: Sie ist unterlegen und sie braucht Brot und keinen Stein. Mit humanitären Lieferungen können wir sicher einiges bewirken. Aber zum Schutz des Landes, zur Befreiung des Landes würde ich die Taurus-Lieferung begrüßen - auch wenn ich weiß, dass man mit Waffen allein den Frieden nicht herstellen kann.

Marschflugkörper sind weitreichende, wirklich verheerende Waffen.

Ja, aber in diesem Konflikt stehen die USA, Deutschland, die gesamte Nato wirklich auf der richtigen Seite. Sie haben diesen Konflikt nicht angefangen. Wenn es im Europa des 21. Jahrhunderts möglich ist, dass die Grenzen eines souveränen Staates so eklatant verletzt werden, dass eine Invasion stattfindet, dann kann man darauf nicht nur mit einem "Wir sind besorgt" reagieren.

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Abgesehen von diesem Sonderfall: Halten Sie Waffenexporte generell für verwerflich?

Das ist eine schwierige Frage. Aber grundsätzlich werden Waffenproduktion und Waffenexporte die Menschheit nicht in eine friedliche Zukunft begleiten. Möglicherweise trübt meine Verbundenheit mit der Ukraine meine Reflexion über das gesamte Thema. Sicher werden Waffen auch in Krisengebiete geliefert, wo sie nicht zu Stabilisierung oder gar Befriedung beitragen, sondern Konflikte verlängern und verschärfen. Die immensen Mittel für die Rüstungsindustrie könnte man langfristig sicher besser investieren.

Gerade ist ein weiteres Land Opfer eines militärischen Überfalls geworden: Israel. Wie sehen Sie auf diesen Konflikt, als Christ mit ukrainischen Wurzeln?

Ich habe mir auf Facebook einige Videos mit den jüdischen Geiseln angesehen. Es ist zutiefst abscheulich, was da geschieht. Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern hat eine sehr lange Geschichte, die ist auch nicht so klar wie im Fall des Ukrainekrieges. Dennoch: Wie die Hamas jetzt Menschen abschlachtet oder verschleppt, ist absolut verwerflich. Das kann durch nichts gerechtfertigt werden. Wohin steuern wir als Menschen, wenn manche zu so etwas fähig sind?

Lassen sich die Massaker von Butscha in der Ukraine und jetzt auf dem Nova-Festival in der Negev-Wüste miteinander vergleichen?

Was jetzt in Israel geschehen ist, war noch heftiger. In Butscha hatten wir die Gräueltaten von Soldaten, die sich in einem fremden Land in einer Kriegssituation befanden. Aber Kinder waren zumindest keine direkten Opfer. Das macht das Verbrechen insgesamt natürlich keineswegs harmloser. Aber was jetzt in Israel geschehen ist, kann man schlicht nicht fassen, es macht mich sprachlos.

Wir steuern nun auf eine Weihnachtszeit mit womöglich zwei Großkriegen zu. Haben Sie irgendetwas Tröstliches für Ihre Gemeinde, Ihre Gläubigen?

Man fragt sich natürlich, was denn überhaupt noch aus dieser Welt wird. Wenn ich sie mit einem menschlichen Körper vergleiche, dann ist der Ukrainekrieg wie ein Schuss ins Knie, ins Bein. Israel aber ist ein Schuss in den Bauch, in die Mitte des Organismus. Der Krieg dort tobt in einem Schmelztiegel der Religionen - das kann ein Ausmaß annehmen, das über den Ukrainekrieg hinaus geht.

Das weckt weder Trost noch Hoffnung.

Man darf sich eben nicht nur das anschauen, was in der Welt geschieht. Wir müssen auch einen Blick nach innen wagen. Die Weihnachtsbotschaft ermöglicht mir diesen Blick nach innen, indem ich mir die Frage stelle: Was macht mich denn persönlich so unfriedlich? Und Jesus sagt: Meinen Frieden gebe ich euch. Dieser Frieden ist von der Weltlage unabhängig, es ist ein Überfrieden. Wenn ich mich davon inspirieren lasse, kann das Kreise ziehen, von der Familie über die Gemeinde bis in die Stadt - etwa, indem Bremen versucht, Vielfalt friedlich zu leben. Dann können wir auch etwas bewirken.

Das Gespräch führte Joerg Helge Wagner.

Zur Person

Andreas Hamburg (50)

ist seit 2018 Pastor der evangelischen Gemeinde St. Markus und seit Anfang 2021 Friedenbeauftragter der Bremischen Evangelischen Kirche. Den Posten teilt er sich mit Jasper von Legat. Bis 2014 lebte er - mit Unterbrechungen - in seiner Geburtsstadt Odessa. Nach Kriegsausbruch im Februar 2022 hat er ein Ukraine-Solidaritätsnetzwerk aufgebaut.

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