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Basisdemokratie Volksentscheide müssen eine Ausnahme bleiben

Ein Volksentscheid über E-Scooter? Befragt man die Bürger zu jedem noch so kleinem Streitthema, profitiert am Ende niemand – im Gegenteil, meint Felix Wendler.
17.04.2023, 22:20 Uhr
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Volksentscheide müssen eine Ausnahme bleiben
Von Felix Wendler

Was haben E-Scooter in Paris und die Bremer Galopprennbahn gemeinsam? Ihre Zukunft wurde in die Hände der Bevölkerung gelegt. 2019 hatten die Bremer bei einem Volksentscheid dagegen gestimmt, dass das Gelände in der Vahr bebaut wird. Von einer Mehrheitsentscheidung zu sprechen, ist eigentlich falsch: Wegen der geringen Wahlbeteiligung reichten rund 146.000 Stimmen aus, um das Vorhaben zu kippen. Das entspricht etwa einem Drittel der damals Wahlberechtigten. Verglichen mit dem Votum in Paris ist das dennoch ein geradezu repräsentatives Bild – weniger als zehn Prozent der wahlberechtigten Pariser nahmen teil. Die Roller sollen trotzdem verschwinden.

Das Volk zu befragen, klingt nach einer hehren Absicht. Warum nicht viel häufiger diejenigen entscheiden lassen, die von den Konsequenzen direkt betroffen sind? Mit dieser Forderung gestaltet die Partei Die Basis fast ihr gesamtes Wahlprogramm. Argumente dagegen gibt es viele. Das Beispiel Paris zeigt, was Volksentscheide nicht sein sollten. E-Scooter sind für manche Menschen ein Ärgernis, aber sicherlich kein Thema von überragender Bedeutung. Lässt man die Bevölkerung derart wahllos über Befindlichkeiten abstimmen, verliert der Volksentscheid jeden Wert. Genauso gut könnte die Stadt ihre Bürger fragen, ob sie mehr Parkbänke wollen.

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Man stelle sich vor, in Bremen würde jeden Monat das Volk darüber abstimmen, was ansonsten auf kleinteiliger politischer Ebene passiert. Sollen die neuen Parkautomaten eine Kartenzahlfunktion bekommen? Braucht das Tabakquartier eine weitere Busanbindung? Die Wahlbeteiligung ließe sich im wahrsten Sinne des Wortes an einer Hand abzählen. Mehr noch: Jede weitere Wahl verlöre an Bedeutung – auch dann, wenn sie wirklich bedeutsam wäre. Wer die direkte Demokratie überstrapaziert, stellt die repräsentative Demokratie infrage. In der Schweiz, die viele Volksentscheide durchführen lässt, stimmt bei Nationalratswahlen nicht mal jeder Zweite ab. Zugegeben: Das hat nur indirekt mit den Volksentscheiden zu tun – es ist schlichtweg so, dass die Wahlen weniger Auswirkungen auf die politischen Verhältnisse haben als in Deutschland.

Wer die direkte Demokratie überstrapaziert, stellt die repräsentative Demokratie infrage.

Gerade deshalb wäre aber anzunehmen, dass die Schweizer die Volksabstimmungen stark beanspruchen – tun sie jedoch nicht. Als es 2003 um die mögliche Abschaffung der Schweizer Armee ging, lockte das gerade mal 38 Prozent der Wahlberechtigten an die Urnen. Wären es mehr gewesen, wenn die Schweizer nicht alle paar Monate zur Abstimmung aufgerufen würden? Vermutlich. Der Gewohnheitseffekt allein kann es aber auch nicht sein, der Volksentscheiden die Kraft nimmt. Die Abstimmung darüber, ob Berlin bis zum Jahr 2030 klimaneutral werden soll, ist ein gutes Beispiel. Das Thema ist wichtig, die Befürworter machten engagiert Werbung. Am Ende stimmte trotzdem nur etwas mehr als ein Drittel der Wahlberechtigten ab.

Sind die Hürden für Volksentscheide zu hoch? Mitnichten. Offenbar sind die Menschen an der direkten Demokratie gar nicht so sehr interessiert. Rege Beteiligung gibt es nur im Zuge einer Wahl. Als es in Berlin darum ging, ob private Wohnungsunternehmen enteignet werden sollen, nahmen drei von vier Wahlberechtigten teil – annähernd so viele wie bei der parallel stattfindenden Bundestagswahl. Hätte Bremen 2019 nicht am Bürgerschaftswahltag, sondern an einem beliebigen Sonntag über die Rennbahn abgestimmt, wäre das Gelände heute wahrscheinlich bebaut. Den Bürgern kann man daraus keinen Vorwurf machen: Warum sollten sie sich übermäßig für ein Areal interessieren, zu dem die allermeisten keinen Bezug haben? 

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Auch die Platanen am Neustädter Deich, über deren Zukunft zumindest vorerst nicht das Volk entscheiden wird, sind verglichen mit den großen Krisen eine Nichtigkeit. Volksentscheide zu ermöglichen, ist prinzipiell richtig. Man sollte sich allerdings im Klaren sein, dass es dabei nicht immer um das geht, was das Volk mehrheitlich wirklich interessiert – sondern oft um das, was besonders engagierte Gruppen für besonders wichtig erachten.

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