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Social-Media-Star Erdin Ciplak Die Welt, wie Mr. Blindlife sie sieht

Erdin Ciplak ist blind. Als Mr. Blindlife ist er in den sozialen Medien aktiv, bei Tiktok beispielsweise folgen ihm fast 500.000 Menschen. Ein Gespräch über das Leben, das Sehen und plötzliche Berühmtheit.
10.11.2022, 06:08 Uhr
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Die Welt, wie Mr. Blindlife sie sieht
Von Marc Hagedorn

Manchmal wird Erdin Ciplak in seinen Videos zum rasenden Reporter. In solchen Momenten klingt er wie ein Fußballkommentator im Stadion, der ein Dribbling von Messi schildert. „Hier geht’s los, meine Damen und Herren“, sagt er dann. Ciplak ist blind und filmt sich selbst dabei, wie er sich am Bahnsteig durch die Menschenmenge kämpft. „Von links kommt jemand, und von rechts kommt einer, und ich gehe einfach durch die Mitte.“ Seine Stimme beginnt zu beben. „Und jetzt“, ruft er, „und jetzt noch einer, oder? Ich seh’s gar nicht.“ Seine Stimme überschlägt sich beinahe, eine Frau blockiert mit ihrem Koffer den Weg. „Jetzt renne ich in eine Person hinein, die einfach im Weg steht. Das kann doch gar nicht sein.“ Es fehlt jetzt nur noch das Raunen des Publikums. Dann beruhigt sich Ciplak wieder. „Okay, Spaß, kann doch mal passieren.“

Erdin Ciplak ist unterwegs für einen seiner Leitstreifen-Checks. Leitstreifen nennen sich die Markierungen auf dem Boden in Bahnhöfen, an denen sich blinde und sehbehinderte Menschen orientieren können. Seine Leitstreifen-Checks haben dem 36-jährigen Hamburger in den sozialen Medien eine gewisse Berühmtheit verschafft. Mr. Blindlife nennt er sich auf Tiktok, Instagram, Facebook und YouTube. Eine halbe Million Menschen folgen ihm allein bei Tiktok und schauen sich regelmäßig seine kurzen Filme an, in denen er unter anderem Bahnsteige auf ihre Barrierefreiheit und Behindertentauglichkeit überprüft.

Herr Ciplak, Sie bezeichnen sich als „gesetzlich blind“. Was muss ich mir darunter vorstellen?

Ich habe noch knapp zwei Prozent Sehkraft, bin nach der gesetzlichen Definition aber blind. Wenn ich sage, ich bin blind und sehe doch ein paar Dinge, verwirrt das die Menschen. Deshalb verwirre ich sie lieber erst recht, indem ich den Begriff gesetzlich blind verwende. (lacht) Wenn die Leute das hören, fangen sie an, darüber nachzudenken, was Blindsein bedeutet. Blind ist nicht gleich blind. Ich sag‘ immer: Das ist wie bei der Farbe rot, es gibt nicht nur ein Rot.

Wenn Sie in Hamburg auf der Mönckebergstraße stehen, was sehen Sie dann?

Mit dem rechten Auge sehe ich nur hell und dunkel. Deshalb kann ich es zur Orientierung auch nicht nutzen. Das linke Auge hat ein relativ gutes Sichtfeld, aber ich sehe Dinge nur sehr verschwommen, wenn sie weiter weg sind. Auf der Mönckebergstraße würde ich sich bewegende Objekte vereinzelt erkennen, die ich vermutlich als Menschen identifizieren könnte. Aber wie genau diese Menschen aussehen, könnte ich nicht sagen. Ich muss immer sehr nahe ran, um die Dinge zu identifizieren. In einer Zeitung zum Beispiel könnte ich die Überschriften wahrscheinlich lesen, wenn ich mir die Seite ganz dicht vor die Augen hielte, aber den Text darunter werde ich nie lesen können.

Sie sind von Geburt an blind. Was haben Sie an Ihren Augen schon gehabt?

Den grauen Star, den grünen Star. Die Linsen sind herausoperiert. Ich habe eine Netzhautablösung gehabt, eine Hornhauttransplantation, Silikonöl im rechten Auge und Augenzittern. Meine Oma sagt immer, sie habe bei 40 Operationen aufgehört zu zählen. Ich weiß, dass danach sicher noch zehn weitere Operationen dazu gekommen sind.

Mr. Blindlife ist inzwischen so bekannt, dass er regelmäßig von fremden Menschen angesprochen wird. Drei Jungen, vielleicht 14 oder 15 Jahre alt, Baseballcaps, weite Hosen, schicke Sneaker, stehen zusammen. Einer ruft: „Hey, ich kenn‘ dich von Tiktok.“ „Ja, ja, ich bin der von Tiktok“, sagt Ciplak. Und wieder die Jungs: „Können wir ein Selfie machen?“ „Ja klar, kommt her.“ Handys werden gezückt, Fotos gemacht. Einer der Jungs sagt: „Ich hab‘ gestern erst ein Video gesehen, wie jemand dir den Leitstreifen nicht freigegeben hat.“

Halbstarke Jungs, die wissen, was richtig ist: den Leitstreifen freihalten. Was denken Sie, wenn Sie so etwas hören?

Ich freue mich, wenn Jugendliche, aber auch immer mehr Erwachsene mich inzwischen erkennen, kurz reden wollen, oder ein Selfie machen möchten. Das ist ein schönes Gefühl. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, es ginge mir bei meinen Videos nur um das Thema Blindheit. Aber das Gute ist, dass es über das Selfie hinausgeht. Durch meine Videos haben die Menschen Kontakt mit dem Thema Blindheit. Das ist die Idee: Interesse wecken. Dass Schüler vielleicht sagen, ich möchte in der Schule ein Referat darüber schreiben, dass sie sich denken, ich will etwas zu dem Thema lesen.

Gibt es eine Botschaft darüber hinaus?

Eines meiner Mottos lautet: Brücken bauen und Barrieren beseitigen. Viele denken: Ein blinder Mensch kann doch gar nicht reisen. Doch! Kann er. Ich bin ein Beispiel dafür.

Sie sprechen in Ihren Videos, wie Ihnen der Schnabel gewachsen ist, sagen auch mal „yo, Digga“ oder „Scheißding“, wenn Ihnen auf dem Bürgersteig ein E-Scooter im Weg steht.

Ich komme über meine Sprache und lockeren Sprüche gut an die Leute ran. Die 14- oder 15-Jährigen haben aber schon noch eine andere Sprache als ich. Ich würde mich auch verfälschen, wenn ich mit 36 noch komplett wie ein 16-Jähriger reden würde. Ich habe in den Videos die künstlerische Freiheit, so zu quatschen. „Digga“ zu sagen ist auch Unterhaltung. Ich will über die Sprache aber auch sensibilisieren. Jugendliche verwenden das Wort „behindert“ manchmal als Beleidigung. Darüber sollten sie nachdenken.

Sie sagen in Ihren Videos selbst oft: „Das sieht doch ein Blinder“ oder „Ah, klar, jetzt sehe ich’s auch“.

Ich finde es sehr nett, wenn man in der Lage ist, über sich selbst Witze zu machen. Und ich möchte mich selbst sprachlich auch nicht einschränken. Wenn ich mich vor den Fernseher setze, sage ich „Ich schaue jetzt fern“. Ob ich das nun tatsächlich sehe, was auf dem Bildschirm passiert, ist nicht das Thema. Sehende Menschen benutzen einen Satz wie „Das sieht doch ein Blinder“, warum ich nicht auch?

Erdin Ciplak ist studierter Sozialarbeiter. Als Mr. Blindlife dreht er nahezu jeden Tag ein neues Video. Er filmt und schneidet selbst. Außerdem leitet er Führungen im Dialoghaus Hamburg. In der Ausstellung „Dialog im Dunkeln“ sind Ciplak und seine blinden oder sehbeeinträchtigten Kollegen Gastgeber und führen Besucher durch einen lichtlosen Parcours. Seit gut einem Jahr ist Ciplak mit Jasmin verheiratet, auch sie sieht nur sehr eingeschränkt. Jasmin studiert Jura.

Wie lebt man als blindes Paar in Deutschland?

Jasmin sieht mit acht Prozent deutlich mehr als ich. Der Vorteil für unser Zusammenleben ist: Wir wissen, was es bedeutet, schlecht zu sehen. Das gibt uns eine gute Basis. Wir haben gelernt, die jeweiligen Vorteile des anderen miteinander zu kombinieren.

Sie unternehmen viel mit Ihrer Frau und Ihren Freunden. Man sieht Sie in Ihren Videos auf Hafenrundfahrten oder auf Aussichtstürmen. Wie erleben Sie diese Ausflüge?

Wenn wir auf einen Turm steigen und die Aussicht genießen wollen, sehen wir vielleicht nicht viel. Aber der Grundgedanke zählt. Dass wir 50 Meter über dem Boden sind. Dass wir Treppen hinaufgestiegen sind. Dass wir ein Video oder ein Foto gemacht haben. Wir können das Foto vielleicht selbst nicht anschauen, aber dafür die Freunde und Verwandten, die sich freuen, wenn man es ihnen zeigt. Wir Menschen sind soziale Wesen. Natürlich fragen manche: Warum machst du eine Hafenrundfahrt? Aber du hast den Kapitän, der etwas erzählt. Du hörst das Wasser, du trinkst etwas auf dem Boot. Es ist das Erlebnis, um das es geht.

Was würden Sie sagen, wie hat sich in Deutschland der Umgang mit Behinderten im Laufe der Jahre verändert?

Die Menschen sind offener und interessierter am Thema Blindheit und Beeinträchtigung geworden. Aber wo man es nach wie vor schwer hat, ist auf dem Arbeitsmarkt. Man muss als Mensch mit einer Beeinträchtigung 150 Prozent Einsatz geben, um zu 80 Prozent anerkannt zu werden.

Was meinen Sie damit?

Ich war auf einer Schule für blinde Menschen, da lernt man viel. Aber was man nicht lernt: wie es draußen in der Welt zugeht. Das habe ich gemerkt, als ich die Schule, meine geschützte Zone, verlassen habe und auf die Hochschule gewechselt bin. Heute bin ich extrovertiert und offen, aber das musste ich mir beibringen. In meiner Schule haben immer alle etwas für mich getan. Warum kommt hier an der Uni jetzt niemand und hilft mir? Daraus habe ich geschlussfolgert: Geh‘ auf die Leute zu, sei offen, mach‘ den einen oder anderen Witz.

Die Videos von Mr. Blindlife sind auf Tiktok über 16 Millionen Mal gelikt worden. Auf YouTube hat Mr. Blindlife gerappt. Manchmal trifft er sich auch mit den Entscheidern von Verkehrsbetrieben, um mit Ihnen darüber zu sprechen, was an Bahnhöfen und Bushaltestellen für Menschen mit Beeinträchtigungen noch verbessert werden muss. Hinterher verspricht Mr. Blindlife seinen Followern: „Ich halte euch auf dem Laufenden darüber, was wir entwickeln. Na ja, was die entwickeln, ich habe ja nur meine Ideen dazu beigetragen.“

Sie sind immer wieder auf Bahnhöfen unterwegs. Was erleben Sie dort?

Jeder Bahnhof ist erst einmal Stress. Es ist laut, es sind viele Menschen unterwegs, sie haben es eilig. Was Menschen wie mir öfter passiert, ist, dass wir ungefragt angefasst werden, wenn wir am Gleis stehen. Wenn der Zug einfährt, kommt ein Passant, packt dich am Arm und zieht dich in das Abteil, ohne mit dir zu reden, und das finde ich buchstäblich übergriffig.

Obwohl derjenige es vermutlich gut gemeint hat.

Ja, der Gedanke ist gut, deshalb will ich das auch gar nicht so böse sehen. Aber man fasst nicht ungefragt jemanden an. Wir sind keine kleinen Kinder, die man retten muss, weil wir kurz davor sind, ins Gleisbett zu fallen. Wenn dir das fünf oder zehn Mal am Tag passiert, ist das irgendwann nervend. Wenn man stattdessen gefragt würde: Darf ich helfen, hat man die Entscheidungsmacht, ja oder nein zu sagen. 

Vielleicht sind viele Menschen auch unsicher, wie sie jemanden ansprechen sollen, der nicht so gut oder gar nichts sieht.

Dafür gibt es eine einfache Regel, finde ich. Behandle einen Menschen so, wie du selbst behandelt werden möchtest. Und wenn du als Erwachsener etwas nicht weißt, erinnere dich an deine Kindheit. Frag einfach nach, so wie du es als Kind getan hast, dann bekommst du meistens auch eine gute Antwort.

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