Das Urteil gefällt dem 22-Jährigen gar nicht, das wird im Gerichtssaal schnell deutlich. Kaum hat die Vorsitzende Richterin das Strafmaß verkündet – drei Jahre und acht Monate – beginnt der junge Marokkaner zu schimpfen. Auf Arabisch, weshalb wohl niemand im Gerichtssaal versteht, was er sagt. Ausgenommen der Dolmetscher neben ihm, aber der übersetzt in diesem Moment nicht.
"Jetzt erzähle ich erstmal und Sie hören zu", wendet sich die Richterin an den Angeklagten. Das übersetzt der Dolmetscher, aber nutzen tut es zunächst wenig. Denn schon als die Richterin im nächsten Satz sein Geburtsdatum erwähnt – der 3. Juli 2001 – redet der 22-Jährige erneut dazwischen. Auch ohne Übersetzung ist unschwer zu deuten, was ihn stört. Seinem Geburtsdatum und damit seinem Alter kommen in diesem Prozess entscheidende Bedeutung zu. Er selbst beteuert, erst am 28. November 2005 geboren zu sein. Damit wäre er zum Zeitpunkt seiner Taten, begangen zwischen Ende September 2022 und Mitte April dieses Jahres, noch minderjährig und damit nach Jugendstrafrecht zu verurteilen gewesen.
Kein Zweifel an Volljährigkeit
Doch das Gericht hat keine Zweifel daran, dass er zu dieser Zeit bereits volljährig war. Entsprechende Informationen stammen von Interpol, hinterlegt mit einem Fingerabdruck des Angeklagten. Der war zuvor nicht nur mit einem falschen Alter in Bremen unterwegs, sondern auch unter einem falschen Namen. Überhaupt sei es sehr schwierig gewesen, seinen Lebensweg nachzuvollziehen, sagt die Vorsitzende Richterin. Ständig habe es dazu unterschiedliche Angaben gegeben. Mal hieß es, er sei in Agadir geboren, mal in Casablanca. Mal hieß es, er sei bei seiner Großmutter aufgewachsen, dann bei einem fremden Mann. Und kaum hatte der 22-Jährige gesagt, dass er vor seiner Flucht nach Europa in Agadir lebte, da erzählt sein bester Freund dem Gericht, dass er vor der gemeinsamen Flucht zusammen mit dem Angeklagten auf dem Markt von Casablanca gearbeitet habe.
Es lasse sich einfach kein eindeutiges Bild zum Vorleben des Angeklagten zeichnen, erklärt die Richterin. Deshalb sei auch das Geburtsjahr 2005 "schlicht und einfach nicht nachvollziehbar". Interpol dagegen sei als Quelle hinreichend verlässlich. Das Gericht hat keinen Zweifel an seiner Identität und an seinem wahren Alter. Heute 22, zur Tatzeit 21 – und damit ein Fall fürs Erwachsenenstrafrecht.
Stationen seiner Flucht aus Marokko waren Spanien, Frankreich, Italien und die Schweiz. 2022 kam er nach Bremen, wo er wegen seines falsch angegebenen Alters zunächst in einer Jugendhilfeeinrichtung untergebracht wurde. Trotz dieses geschützten Raumes sei er schon sehr bald durch Straftaten aufgefallen, konstatiert die Vorsitzende Richterin. Sieben davon brachten ihn jetzt vors Landgericht. Begonnen bei einem gescheiterten Diebstahl bei Dodenhof, über mehrere Antanzdiebstähle bis hin zum Widerstand gegen Polizeibeamte nach seiner Festnahme.
Antanzen gilt eigentlich als Trickdiebstahl. Weil der Angeklagte und seine Komplizen dabei mehrfach gewalttätig wurden und der 22-Jährige einmal ein Messer dabeihatte, wurde daraus vor Gericht Diebstahl mit Waffen, räuberischer Diebstahl sowie versuchter oder vollendeter Raub. Was in der Summe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und acht Monaten führte. Die Staatsanwaltschaft hatte dreieinhalb Jahre Haft gefordert, die Verteidigung auf eine Bewährungsstrafe plädiert, also auf nicht mehr als zwei Jahre Haft.
Damit, dass er tatsächlich ins Gefängnis muss, hatte der Mann offenbar nicht gerechnet. Einmal offenbart er deshalb sogar gewisse Deutsch-Kenntnisse: "Drei Jahre, acht Monate und alles gut? Nichts gut!", herrscht er die Vorsitzende Richterin an.
Gericht glaubt nicht an Drogensucht
Gedanken machte sich das Gericht auch über die Unterbringung des Angeklagten in einer Drogenklinik. Der 22-Jährige hatte beteuert, von Drogen und Medikamenten abhängig zu sein. Doch auch das nimmt ihm das Gericht nicht ab. Von erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit könne keine Rede sein. Kein einziger Zeuge habe dies bestätigt. Vielmehr sei er "logisch, listig und gezielt vorgegangen" und habe stets auch "ein geordnetes Fluchtverhalten" an den Tag gelegt. Zivilfahnder der Polizei beschrieben ihn vor Gericht als "sehr organisierten Kopf einer Gruppe einschlägig bekannter Jugendlicher".
Der seit dem 23. April geltende Haftbefehl gegen den 22-Jährigen bleibt aufrecht erhalten. So verlässt er den Gerichtssaal, wie er gekommen ist, in Handschellen. Nicht ohne zuvor noch einen kuriosen Schlusspunkt im Protokoll dieses Prozesses zu setzen. Der 22-Jährige habe noch eine Bitte, beziehungsweise einen Antrag, übersetzt der Dolmetscher, als sich der Marokkaner für alle im Saal, inklusive seines Verteidigers, noch einmal überraschend zu Wort meldet: Er wolle nur die Hälfte seiner Haft in Deutschland verbringen, den Rest der Strafe stattdessen in der Schweiz absitzen.