Herr Mäurer, Sie haben zur Flüchtlingsproblematik von einer „außerordentlich schwierigen Großwetterlage“ gesprochen. Es sei ein Unding, dass Tausende von Flüchtlingen unkontrolliert ohne jede Registrierung in Deutschland unterwegs sind. Erinnern Sie sich noch, wann das war?
Ulrich Mäurer: Schon eine Weile her. 2015?
Richtig. In einem Interview mit dem WESER-KURIER im Dezember 2015. Gilt das „ungesteuert“ noch?
Ja. Ich bin überzeugt, die ungesteuerte Zuwanderung ist das zentrale Thema. Wir haben seit 2015 in Deutschland 2,46 Millionen Flüchtlinge aufgenommen, dazu sind seit 2022 noch einmal 1,25 Millionen Menschen aus der Ukraine gekommen. 2023 war mit 329.000 Asylanträgen wieder ein Rekordjahr. Und dazu kamen noch einmal ungefähr 60.000 illegale Einreisen.
Was verstehen Sie unter „ungesteuert“?
Dass die Bundesrepublik weder Einfluss darauf hat, wer zu uns kommt, noch darauf, wie viele kommen. Wir haben gegenwärtig keine Möglichkeit, diese Entwicklung zu steuern. Zurzeit kann jeder selbst entscheiden, in die Bundesrepublik einzureisen. Die europäischen Außengrenzen sind offen. Die Mehrzahl der Flüchtlinge wird entgegen dem europäischen Recht von den Staaten an den Außengrenzen nicht registriert und durchgewunken. Damit wird das System der offenen Binnengrenzen dramatisch gefährdet. Es muss gelingen, die europäischen Außengrenzen zu sichern.
Noch ein Rückblick auf das Gespräch 2015. Damals haben Sie auch gesagt: „Ich denke, dass wir mit den gut 10.000 Flüchtlingen in Bremen langfristig klarkommen.“ Mehr würde die Möglichkeiten Bremens übersteigen. Wie viele sind tatsächlich gekommen?
Circa ein Prozent der 2,46 Millionen, also etwa 24.000.
Also weit mehr als das Doppelte von dem, was Sie seinerzeit für verträglich hielten. Was sind die Folgen?
Wir sind, wie die Mehrzahl der Städte und Kommunen, völlig überfordert mit der Aufnahme so vieler Menschen. Viele der Probleme gab es schon vorher, sie haben sich durch die massive Zuwanderung aber verschärft. Die Situation auf dem Wohnungsmarkt zum Beispiel, wo es kaum noch möglich ist, eine günstige Wohnung zu bekommen. Wir haben enorme Schwierigkeiten schon im Kita-Bereich. Da fehlen die Plätze. Und so geht es weiter in Schule, Ausbildung und Arbeit. Es sind auch enorme finanzielle Belastungen damit verbunden. Alleine für die Unterbringung der unbegleiteten Jugendlichen hat Bremen in den letzten Jahren 408 Millionen Euro ausgegeben.

Straftäter wurden zuletzt auch wieder nach Syrien und Afghanistan abgeschoben.
Was aber nicht alle Bremer in gleichem Maße trifft.
Das ist ein weiteres zentrales Problem: Die Betroffenheit fällt höchst unterschiedlich aus. Oberneuland hat keine Probleme. Die Last der Migration schultern die Stadtteile, die eh schon Schwierigkeiten haben, wie Walle oder Gröpelingen. Dazu kommen weitere negative Begleiterscheinungen.
Sie meinen die Kriminalität?
Richtig. Wir haben seit Sommer 2023 einen massiven Anstieg von Raubüberfällen, den wir eindeutig zuordnen können. Die Mehrzahl dieser Taten geht auf das Konto von jungen Männern aus Nordafrika.
Zuletzt war viel von einer „Neuausrichtung der Migrationspolitik“ die Rede. Sehen Sie Ansätze für echte Lösungen?
Die Erfahrung zeigt: Wer Deutschland erreicht, bleibt in der Regel auch dauerhaft hier. 2023 haben alle Bundesländer zusammen gerade 11.000 Personen abgeschoben. Darüber hinaus gab es lediglich 5000 Dublin-Überstellungen. Gleichzeitig haben 329.000 Menschen Asyl beantragt. Nur die Hälfte hat einen Schutzstatus zugesprochen bekommen. Es hätten also über 160.000 Personen die Bundesrepublik verlassen müssen.
Was ist mit Grenzkontrollen, Dublin-Rückführungen oder schnelleren Verfahren?
Aktuell stehen ja wieder die Grenzkontrollen im Mittelpunkt. Wenn das in Kooperation mit unseren Nachbarn wie Österreich oder Polen passiert, funktioniert das auch recht ordentlich. 2023 wurden über 30.000 Personen daran gehindert, illegal in die Bundesrepublik einzureisen.
Die CDU will mehr. Alle Personen, die ihren Asylantrag eigentlich in einem anderen EU-Land hätten stellen können, sollen an der Grenze zurückgewiesen werden.
Das funktioniert nicht. Sagen wir: "Ihr kommt hier nicht rein." Und Österreich sagt: "Wir nehmen euch nicht zurück", dann produziert das katastrophale Verhältnisse an den Grenzen. Wo sollen diese Menschen bleiben?
Und das Dublin-Abkommen? Jeder Flüchtling wird in das europäische Land zurücküberstellt, über das er nach Europa eingereist ist?
Hat nie richtig funktioniert, weil die Lasten durch dieses System völlig ungleich verteilt wurden. Aber nun haben wir spätestens ab 2026 ein neues europäisches Asylsystem, das diese Schwächen ausgleicht. Darin verpflichten sich alle Länder, die Flüchtlinge, die bei ihnen ankommen, auch wirklich zu registrieren. Diese Registrierung ist der entscheidende Schritt für mehr Sicherheit. Zugleich beinhaltet das neue System, dass die Europäische Kommission dafür sorgt, dass die registrierten Personen europaweit fair verteilt werden.
Und bis diese neue Regelung greift?
Die Bundesregierung hat vorgeschlagen, dass wir Asylbewerber nicht mehr an die einzelnen Bundesländer weiterverteilen, wenn sie an der Grenze ankommen. Stattdessen sollen sie zunächst mal in grenznahen Einrichtungen untergebracht werden bis entschieden ist, wie es für sie weitergeht. Und wenn feststeht, dass zum Beispiel ihr Asylverfahren in Italien zu führen ist, müssen sie dahin zurückkehren. Falls sie das nicht tun, sollen sie kein Geld mehr bekommen.
Wie steht es um Flüchtlinge aus Afghanistan und Syrien?
Auch da gibt es eine neue Entwicklung. Die Bundesrepublik hat vor Kurzem die ersten Straftäter nach Afghanistan und Syrien abgeschoben. Ich gehe davon aus, dass es demnächst weitere Flüge geben wird, und hoffe, dass dann unsere Straftäter aus Bremen dabei sind.
Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang generell den Umgang mit Straftätern?
Bei denen können wir natürlich nicht darauf warten, bis das neue europäische System greift. Wir haben gerade in den letzten Monaten die große Zahl von Raubüberfällen erlebt. Darauf müssen wir eine klare Antwort geben. Die Mehrzahl dieser Straftäter, rund 40, befindet sich ja schon in Haft. Aber nach Ende ihrer Haft möchte ich sie gerne in ihre Heimatländer abschieben.
Wobei Straftäter nur einen sehr kleinen Teil derer ausmachen, die eigentlich abgeschoben werden müssten. Müsste sich hier nicht auch etwas ändern, gerade in Bremen?
Wir werden die Abschiebung jetzt generell in der Innenbehörde konzentrieren. Wir bauen hier eine Zentralstelle für Rückführungen auf und erwarten dadurch deutlich höhere Fallzahlen.
Also eine Zentralisierung nach dem Modell des bisherigen Referats 24, das sich um die Abschiebung von Straftätern und Gefährdern kümmert?
Genau. Wir wollen das Fachwissen, die Kenntnisse und Erfahrungen des Referats 24 künftig auch für den anderen Personenkreis nutzbar machen. Es bleibt das Referat 24, hat künftig aber neben dem bisherigen Abschnitt für Gefährder und Straftäter einen zweiten neuen Abschnitt, der sich um das allgemeine Rückführungsmanagement kümmert.
Gibt es dafür einen Zeitrahmen?
Wir sind schon in der Aufbauphase. Und haben bereits die ersten Mitarbeiter für diese Aufgabe gewonnen.
Das Eingeständnis, mit den vielen Flüchtlingen überfordert zu sein, dazu die Forderung nach sichereren EU-Außengrenzen und mehr Abschiebungen, selbst nach Afghanistan und Syrien – klingt wenig nach Bremer SPD?
Wir sind nicht mehr im Jahr 2015. Seitdem hat sich die Bundesrepublik grundlegend verändert. Viele Menschen sind zunehmend verunsichert. Nicht nur wegen der angesprochenen Flüchtlingsproblematik. Nach Corona, dem Ukraine-Krieg und der Energiekrise sorgt die wirtschaftliche Situation für Ängste. All das spiegelt sich auch in den jüngsten Wahlergebnissen wider. Der Aufstieg der AfD ist untrennbar mit dieser Entwicklung verbunden. Wenn man die Probleme nicht löst, muss man sich nicht wundern, dass sich immer mehr Menschen von unserem demokratischen Gemeinwesen abwenden.
Das Gespräch führte Ralf Michel.