Dem deutschen Wald geht es nicht gut. Parteien, Waldbesitzer, Umweltverbände und Medien sind in Alarmstimmung. Sie warnen vor einem „Waldsterben 2.0“. Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner fordert ein 500-Millionen-Programm für die Aufforstung zerstörter Waldflächen, die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt ruft zu einer „Urwald-Offensive“ auf, und sogar die FDP will eine Task Force zur Rettung des Waldes einrichten. Für das TV-Magazin „Panorama“ ist der deutsche Forst ohnehin kaum noch zu retten.
Den etwas Älteren mag dieser Alarmismus bekannt vorkommen. Er erinnert an die frühen 1980er-Jahre, damals wurde das Wort vom „Waldsterben“ geboren. Hauptursache für die seinerzeit starken Schäden an den Bäumen war der „saure Regen“, die hohe Belastung der Luft mit Schwefeldioxid. Die Deutsche Post sah sich sogar genötigt, eine Sonderbriefmarke „Rettet den Wald“ herauszugeben: Sie zeigt stilisierte tote Fichten und eine Uhr, die auf vier vor Zwölf steht. Immerhin wurde das Problem recht erfolgreich angegangen: Dem Waldboden wurde Kalk zugeführt, Autos bekamen Katalysatoren vorgeschrieben, für Heizungsanlagen galten strengere Grenzwerte, in Kraftwerken wurden Anlagen zur Rauchgasentschwefelung eingebaut.
Die Ursachenbekämpfung der aktuellen Probleme wird erheblich schwerer fallen als vor annähernd vier Jahrzehnten. Der Zustand vieler Forstflächen erklärt sich aus einem gefährlichen Mix, der besonders im vergangenen Jahr sichtbar wurde: Auf das Orkantief „Friederike“, das im Januar 2018 viele Bäume entwurzelte, folgte ab April die lange Dürre-Periode, die wiederum eine Borkenkäfer-Plage heraufbeschwor. Durch die extreme Trockenheit war bei vielen Baumarten der Harzfluss eingeschränkt, so dass die Schädlinge leichtes Spiel hatten. Und viele Bäume, die Dürre und Insektenattacken überlebt hatten, wurden dann ein Opfer der zahlreichen Waldbrände.
Das alles klingt dramatisch – und das ist es auch. Trotzdem: Der Begriff Waldsterben ist heute genauso falsch, wie er es in den 80ern war. Das Wort ist eine Übertreibung, die zwar medial einprägsam ist, die wirkliche Lage aber nur unscharf wiedergibt. Tatsächlich handelt es sich um ein regional sehr unterschiedlich ausgeprägtes Baumsterben mit verschiedenen Ursachen. Dazu können auch Sünden der Vergangenheit gehören: Das giftige Schwermetall Cadmium etwa, dessen Einträge in die Umwelt zwischen 1985 und 1995 erheblich verringert worden sind, findet sich mancherorts in Bäumen immer noch in kritischen Konzentrationen.
Waldzustandserhebungen geben Aufschluss
Aufschlussreich über das angebliche Waldsterben ist ein Vergleich der Waldzustandserhebungen des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Im Dürrejahr 2018 wurden 29 Prozent aller Bäume in den Schadstufen zwei bis vier klassifiziert, sie wiesen deutliche „Kronenverlichtungen“ als Hauptmerkmal von Schädigungen aus. Der Anteil von Bäumen mit leichter Schädigung (Schadstufe eins) lag bei 43 Prozent. 28 Prozent der Bäume wiesen keine oder minimale Schäden (Schadstufe null) auf. Kaum anders sah es bereits zehn Jahre zuvor aus: Der Anteil der hohen Schadensklassen lag bei 26 Prozent, 43 Prozent betrug der Wert in Stufe eins, rund ein Drittel der Bäume waren leicht geschädigt.
Das zeigt: Es gibt kein „Waldsterben 2.0“. Vielmehr gibt es seit 1984, dem ersten Jahr der systematischen Beobachtungen, ein stark belastetes Ökosystem Wald. Diese Situation ist allerdings durch die Klimakrise und den Sommer 2018 stärker in das öffentliche Bewusstsein gerückt.
Ein Blick nach Niedersachsen zeigt: Nur 0,1 Prozent aller Bäume haben das Jahr 2018 nicht überlebt, extreme Schäden wiesen 1,1 Prozent auf. Und bei älteren Eichen waren die „Kronenverlichtungen“ nicht 2018 am auffälligsten, sondern durch massiven Insektenbefall in den Jahren 1996/97 und 2010 bis 2012.
Angesichts der Lage des Waldes gibt es gute Gründe, Alarm zu schlagen. Aber Aktionismus, für den etwa Klöckner mit ihrer Forderung nach massiven Aufforstungen steht, ist nicht das Gebot der Stunde. Nötig ist eine Kursänderung in der staatlichen und privaten Forstwirtschaft. Monokulturen aus Kiefer und Fichte müssen wieder zu Mischwäldern werden. Das bedeutet weniger Nadelbäume, weniger Flachwurzler und mehr Baumarten, die Trockenheit vertragen. Der von Klöckner für den 25. September geplante Waldgipfel könnte erste Weichen in diese Richtung stellen. Der Patient befindet sich in einem schlechten Zustand, aber er ist nicht dem Tode geweiht. Kein Grund zur Hysterie.
Jetzt sichern: Wir schenken Ihnen 1 Monat WK+!