Eigentlich hätte Bremen für Erika Mann ein Karrieresprung sein sollen. Doch die schauspielende Tochter des Schriftstellers Thomas Mann wurde mit der Hansestadt nie so richtig warm. "Aber Du weißt es nicht, wie ich (direkt!) unglücklich bin", schrieb sie im August 1925 ihrer Herzensfreundin Pamela Wedekind. Das hatte auch mit bohrenden Selbstzweifeln zu tun. Die 19-Jährige fürchtete, bei ihrer ersten festen Anstellung als Schauspielerin jämmerlich zu scheitern. Sie eigne sich einfach nicht zum Theaterspielen, klagte sie gegenüber ihrer Freundin.
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Vor 100 Jahren, im März 1925, unterzeichnete Erika Mann ihren Vertrag mit dem Bremer Schauspielhaus. Für sie fast so etwas wie ein Kulturschock – aus der wilden, pulsierenden Metropole Berlin ging es in die beschauliche Hansestadt. Kein Zweifel, in Bremen trauerte die 19-Jährige dem viel aufregenderen Leben in der Reichshauptstadt ausgiebig nach. "Vor Berlin hätte es mich vielleicht noch ergötzt", schimpfte sie, dort seien alle Typen "so viel witziger" als in Bremen. Ihr fatalistisches Fazit: "Man sollte eben doch gleich und zuerst in die Provinz gehen." Zugleich zog sie über ihre Kollegen her, die "schlechten Schmierenschauspieler Bremens". Es sei beneidenswert, "mit welcher Selbstverständlichkeit die andern schlecht sind".
Der berühmte Vater versuchte nach Kräften, seine unglückliche Tochter zu trösten. "Es bedrückt mich, daß Du Dir in Bremen noch so wenig behagst", antwortete er ihr am 16. August 1925. Aber er hoffe, sie werde sich noch einleben und Wurzeln schlagen. Freilich gestand er ein, dass derlei kaum zu erwarten sei ohne erste Erfolge und das damit verknüpfte Gefühl, auch wirklich vorwärtszukommen. Und dann ein Satz, der alle Lokalpatrioten schmerzlich berühren dürfte: "Natürlich ist Bremen ein Loch, aber als Lehr- und Durchgangsaufenthalt ist es am Ende auszuhalten." Beruhigend schob der damals 50-Jährige nach, leidlich gleich gestimmte Seelen pflege man auf Dauer überall zu finden.
Bremen reizte Thomas Mann nicht
Über profunde Ortskenntnis verfügte Thomas Mann allerdings nicht. Soweit bekannt, stattete er Bremen nur zweimal in seinem Leben einen Besuch ab – obschon der in München ansässige Schriftsteller in seiner Heimatstadt Lübeck öfter mal vorbeischaute. Doch Bremen reizte ihn offenbar nicht. Das überhaupt erste Mal ließ er sich im Oktober 1925 in der Weserstadt blicken, mithin zwei Monate nach seinem geringschätzigen Urteil. Bei seinem Abstecher verknüpfte er Berufliches und Privates. Der Autor nutzte eine Lesung aus seiner neuen Novelle "Unordnung und frühes Leid", um seine Tochter zu besuchen, sie vielleicht sogar auf der Bühne zu sehen. Damals habe er Gelegenheit gehabt, "den Geist des Hauses, den Aufbau Ihres Spielplans und Ihrer künstlerischen Leistungen schätzen zu lernen", schrieb er 1930 zur Feier des 20-jährigen Bestehens des Schauspielhauses.
Seine anerkennenden Worte dürften aufrichtig gewesen sein. Ähnlich wie später in den 1960er- und 1970er-Jahren genoss das Bremer Theater in den Jahren der Weimarer Republik einen exzellenten Ruf – wohlgemerkt: das privat geführte Schauspielhaus im heutigen Theater am Goetheplatz, nicht das eher biedere Stadttheater in den Wallanlagen. Weil Letzteres vornehmlich Klassiker spielte und Opern aufführte, hoben Johannes Wiegand und Eduard Ichon im Frühjahr 1910 das Schauspielhaus aus der Taufe.
Wobei der Name Programm war: Im Schauspielhaus wurde ausschließlich Schauspiel geboten, kein Musik- oder Tanztheater. Obgleich das Schauspielhaus als Privattheater ohne Subventionen auskommen musste, feierte es schon bald glänzende Erfolge nicht zuletzt durch zahlreiche Uraufführungen zeitgenössischer Dramatiker. "Das Bremer Schauspielhaus hatte sich innerhalb kurzer Zeit eine vorrangige Stellung in der deutschen Theaterlandschaft erarbeitet", schreibt Frank Schümann in seiner Geschichte des Bremer Theaters. Die beiden Direktoren sprachen von ihrer Bühne als einer "Hochburg deutscher Kunst".
Kann es da verwundern, dass etliche, später auch durch den Film berühmt gewordene Nachwuchsschauspieler angelockt wurden? Der bekannteste unter ihnen dürfte der blutjunge Heinz Rühmann gewesen sein, der im Sommer 1922 aus Hannover kam. Ein weiterer war Hans Söhnker, der ab 1931 in Bremen spielte und das Schauspielhaus in seinen Memoiren als "ausgezeichnetes Privattheater" lobte. Mit anderen Worten: So schlecht und provinziell, wie Erika Mann die Bremer Bühne machte, war sie keineswegs.
Schauspieler in ganz Deutschland gesucht
Doch die überregionale Zugkraft des Schauspielhauses war nicht alles, umgekehrt streckte auch das Theater seine Fühler aus. Zu Beginn der Spielzeit 1925/26 setzte die Leitung auf einen künstlerischen Neuaufbau und suchte dafür in ganz Deutschland nach Schauspielern. Erklärtes Ziel war es, sich "das Beste an darstellerischen Kräften zusammenzuholen", wie die beiden Direktoren verlauten ließen. Ein "fast neues und ganz starkes Personal" sollte zu einem "bedeutenden künstlerischen Ensemble zusammengeschweißt" werden. Dabei mangelte es dem Theater nicht an Selbstbewusstsein: "Es ist sicher, daß das Bremer Schauspielhaus mit dieser sehr sorgsam ausgewählten Künstlerschar in die erste Reihe der deutschen Schauspielbühnen rückt."

Nach eigener Einschätzung ganz vorne dabei: historische Aufnahme des Bremer Schauspielhauses, heute das Theater am Goetheplatz.
Durchaus möglich also, dass die Mann-Tochter nicht oder zumindest nicht nur aus eigener Initiative nach Bremen kam, sondern von den Bremern "entdeckt" und engagiert wurde. Direkt nach dem Abitur war sie im April 1924 zum renommierten Deutschen Theater in Berlin gegangen, der gut vernetzte Vater hatte ihr mit einem Empfehlungsschreiben an Direktor Max Reinhardt den Weg geebnet. In dessen Schauspielschule lernte sie die Schauspielkunst von der Pike auf und debütierte laut ihrer Biografin Irmela von der Lühe "mit kleinen und kleinsten Rollen". Immerhin spielte sie aber auch schon die Prinzessin in Carl Sternheims Drama über den irischen Skandaldichter Oscar Wilde. "Für eine Anfängerin war das alles vielleicht gar nicht so wenig, für Erika Mann war es zu wenig", schreibt von der Lühe. Nach eigener Angabe bat die Nachwuchskraft deshalb Max Reinhardt, sie ziehen zu lassen – womöglich schon mit einem Angebot aus Bremen in der Tasche.
Und das Bremer Schauspielhaus hatte sich viel vorgenommen. Nach Ende der Inflationszeit wollte das Privattheater eine neue Ära einläuten. Moderne und neueste Dichter sollten noch stärker zur Geltung kommen. "Es ist unzweifelhaft eine junge Generation am Werk, in der die wirre Sehnsucht dieser Zeit nach Klarheit ringt", hieß es vonseiten der Direktion. Dieses Wagnis ließ sich das Schauspielhaus einiges kosten, in ihrem Buch über die Geschichte des Theaters weisen Wilhelm Berner und Fritz Peters auf einen stark erhöhten Etat durch die benötigten Dekorationen, Tantiemenzahlungen und Neuverpflichtungen hin. Tatsächlich hatte das Theater mehr als die Hälfte seines Ensembles ausgetauscht, nur neun von 31 Darstellern gehörten der Besetzung des Vorjahres an.
Im Schauspielhaus debütierte Erika Mann am 20. August mit einer Rolle in dem Lustspiel "Ihre Königliche Hoheit". Dabei handelte es sich aber keineswegs um eine Bühnenfassung des väterlichen Romans "Königliche Hoheit", sondern um ein Stück der dänischen Schriftstellerin Thit Jensen. Mit ihrer Performance war Erika Mann alles andere als zufrieden. "Ich bin wieder so blaß und dumm und leise in 'Königliche Hoheit'", teilte sie ihrer Freundin Pamela Wedekind mit. Nach der Premiere lautete ihr eigenes Urteil, "ich war mäßig, bewegte mich unsäglich ungeschickt – sprach teilweis zu leise".
Noch weitaus mehr Sorgen machte sie sich indessen um ihre erste Hauptrolle. In dem Märchenspiel "Der Kreidekreis" sollte sie die tragische Figur der schönen Hai-tang verkörpern. Die Nachdichtung eines altchinesischen Schauspiels aus der Feder Klabunds – das Pseudonym des Schriftstellers Alfred Henschke – war im Januar 1925 in Meißen uraufgeführt worden, nun inszenierte es Oberspielleiter Hans Detlef Sierck in Bremen. Als Douglas Sirk sollte er nach seiner Emigration eine steile Karriere als erfolgreicher Filmregisseur in den USA machen. Ihre Angst vorm Kreidekreis wachse von Stunde zu Stunde, so die verzweifelte Erika Mann in einem Brief an Pamela Wedekind. "Ich weiß nicht, wie ich ihr Herr werden soll. Und Herr Sierck ist ein so strenger Mann. Wird mich einfach von der Bühne jagen."
Das tat er dann aber nicht. Im Gegenteil, das Publikum soll den "Kreidekreis" sehr wohlwollend aufgenommen haben. Womöglich arrangierte sich Erika Mann deshalb auch mit Bremen. Sie wechselte ihr möbliertes Zimmer und meldete ihrer Freundin, sie fange "mählich und langsam" an, sich an der Weser einzugewöhnen. Gleichwohl scheint ihr Bremen-Aufenthalt ein ziemlich abruptes Ende gefunden zu haben, offenbar löste sie ihren Vertrag vorzeitig auf. Denn bereits wenige Monate nach ihrer Ankunft verließ sie im Oktober 1925 schon wieder das "ungeliebte Bremen", wie Johann-Günther König in seinem Buch über Bremen und Bremerhaven in der Literatur schreibt. Der Grund: In Hamburg eröffnete sich die Chance, in "Esther und Anja", dem ersten Theaterstück ihres Bruders Klaus, zusammen mit ihm und Pamela Wedekind auf der Bühne zu stehen. Für die Bremer Bühne wäre das Stück wohl zu gewagt gewesen. "Es thematisierte offen eine lesbische Liebe und löste umgehend einen Skandal aus", vermerkt König.
Danach kehrte Erika Mann nicht mehr nach Bremen zurück, sie setzte ihre Bühnenlaufbahn in München fort. Ähnlich abfällig wie sie äußerte sich Rühmann über sein kurzes Engagement in Bremen. "Ich kam mir in dem steifen Milieu wie ein Darstellungsbeamter vor", wetterte er in seiner Autobiografie. Dabei feierte er mit der Komödie "Der Mustergatte" in Bremen durchaus Erfolge – entgegen seiner eigenen Darstellung.
Dagegen identifizierte sich Söhnker mit dem Schauspielhaus. "Wir waren ein ausgesprochenes Uraufführungstheater", schwärmte er im Rückblick – so können sich die Perspektiven unterscheiden.