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Buch über Feldpostbriefe "Der Heldentod bringt uns nichts"

Dass wieder ein Krieg in Europa toben würde, konnten die beiden jungen Bremer Autoren nicht wissen, als sie Feldpostbriefe aus dem Ersten Weltkrieg analysierten. Aber deshalb ist ihr Buch brandaktuell.
22.01.2023, 11:29 Uhr
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Von Sigrid Schuer

Die Feldpostbriefe, die 1916, zur Halbzeit des Ersten Weltkrieges, verschickt wurden, sprechen eine deutliche Sprache. So ist etwa nachzulesen, dass deutsche Soldaten an der Westfront folgende Parolen an die Wände schrieben: "Der Heldentod bringt uns nichts" und "nicht morden, wir wollen Frieden!" Aber auch an die Front wurden per Feldpost Lageberichte und Stimmungsbilder aus der Heimat geschickt, aus denen eindeutig die Kriegsmüdigkeit spricht: So versammelte sich im August 1916 in Leipzig eine große Menschenmenge, die skandierte: "Es ist genug! Kommt zur Einsicht und Vernunft! Werdet wieder Menschen unter Menschen!"

Wohl niemand hätte nach den bitteren Lehren des Ersten und Zweiten Weltkrieges gedacht, dass je wieder ein Krieg in Europa toben würde. Ein Krieg, in dem kriegsverherrlichende Erzählungen wie die vom Heldentod wieder hoffähig geworden sind. Gerade vor dem Hintergrund dieser Parallelen ist die Untersuchung, die die beiden Bremer Gymnasiasten Julian Thompson und Georg Tschachazpanjan der St. Johannis-Schule im Leistungskurs Geschichte interdisziplinär mit dem Fach Deutsch zu Bremer Feldpostbriefen erarbeitet haben, eine wertvolle Leistung. Die "Bremer Feldpostbriefe von 1916-1918. Briefwechsel des Musikers Paul Lefmann und seiner Familie", die nun als erste Veröffentlichung aus der Geschichtswerkstatt und dem Archiv der St. Johannis-Schule Bremen in Form eines Buches herausgebracht wurden, sind bedrückend und leider auch brandaktuell.

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Nicht umsonst wurde die Publikation durch den Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge unterstützt, der sich seit Anbeginn seines Bestehens über seine Jugendarbeit für Frieden und internationale Völkerverständigung einsetzt. Dieses Engagement ist auch den beiden jungen Autoren wichtig, wie sie betonen. Das Paradoxon vor mehr als 100 Jahren: Soldaten aus allen Nationen waren jubelnd und siegessicher in den Ersten Weltkrieg gezogen, in der fälschlichen Annahme, nach einem schnellen Sieg schon bald wieder zu Hause sein zu können. Viele kehrten traumatisiert zurück, so wie der Künstler Heinrich Vogeler, wie es jüngst der Schriftsteller Moritz Rinke in einem Beitrag für diese Zeitung schilderte. Nach dieser Erfahrung war Vogelers felsenfeste Überzeugung fortan: "Nie wieder Krieg".

Die beiden damals 18-Jährigen, die in diesem Frühjahr ihr Abitur machen, waren von ihrem Geschichtslehrer Oliver Rosteck, der von Haus aus auch promovierter Musikwissenschaftler ist, auf das Projekt angesprochen worden. Sie wurden gefragt, ob sie sich vorstellen könnten, einen Großteil der nahezu in Gänze noch erhaltenen, oft nummerierten Feldpostbriefe, die der Bremer Komponist und Pianist Paul Lefmann mit seiner in der Hansestadt verbliebenen Familie wechselte, in einer vergleichenden Studie zu bearbeiten.

Was sie im Frühherbst 2021 noch nicht wissen konnten: Dass kurz vor Abschluss ihrer Arbeit durch Russlands Angriff auf die Ukraine, knapp 80 Jahre nach der Beendigung des Zweiten Weltkrieges, wieder ein Krieg mitten in Europa ausbrechen würde. "Das Thema Krieg und Frieden ist ja gerade brandaktuell", sagt Julian Thompson. Im Nachhinein seien sie doch sehr erschrocken über diese Entwicklungen. Sehr gut können sich die beiden Gymnasiasten, die seit der fünften Klasse immer wieder an gemeinsamen Projekten gearbeitet haben, in ihre Altersgenossen hineinversetzen, die derzeit ihren Familien entrissen, eingezogen und gezwungen werden, an der Front zu kämpfen. Was damals Feldpostbriefe gewesen seien, wären wohl heute Botschaften in sozialen Netzwerken, mutmaßen sie.

Die Tatsache, dass eine wohl erstmalige Untersuchung von Bremer Feldpostbriefen, von denen ohnehin nicht viele erhalten sind, von ihnen vorgelegt wurde, brachte den Schülern viel Lob und Anerkennung ein, auch von Historiker-Seite. Nachdem sich auch das Schulgremium und Schulleiter Jan Andrees Dönch von dem 116-seitigen Werk begeistert zeigten, entstand in der St. Johannis-Schule die Idee, die Projektarbeit als Buch herauszubringen. Denn von Inhalt und Umfang her entspreche die Untersuchung einer Bachelor-Arbeit, so das Fazit der Experten. Dementsprechend gut verkauft sich nun das Buch. Im Dezember kamen viele Mitglieder des Bremer Landesverbandes des Volksbundes zur Lesung der Schüler in den Willehad-Saal.

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Zielsetzung der wissenschaftlichen Arbeit war unter anderem: Die Gymnasiasten wollten herausfinden, ob die verschickten Feldpostbriefe der Kriegsrealität entsprachen. Nun, sie taten es nicht. Zu groß seien die Bedenken gewesen, Freunde und Familienangehörige daheim in Angst und Schrecken zu versetzen, erzählen die Autoren. Hinter ihnen liegen unzählige Arbeitsstunden, die sie unter anderem im Staatsarchiv und in der Uni-Bibliothek verbrachten. Eine Kärrnerarbeit, die in Sütterlin geschriebenen Briefe zu transkribieren. Bei den undatierten Briefen brauchte es detektivischen Spürsinn und alte Ausgaben der Bremer Tageszeitung und von Wetterarchiven, um herauszufinden, wann diese geschrieben worden sein könnten.

Das sei schon sehr spannend gewesen, unterstreicht das Autoren-Team. Rund ein halbes Jahr Arbeit steckten die Schüler in das Geschichtsprojekt, arbeiteten sogar die kompletten Ferien und die Wochenenden daran. "Wir hatten nur Heiligabend und den ersten Weihnachtsfeiertag frei", erzählt Georg. Dabei seien sie immer wieder von ihrem Lehrer Oliver Rosteck ermutigt worden: "Das schafft ihr!" Die Arbeit lohnte sich: Nach und nach fügte sich ein Mosaiksteinchen zum anderen. Schlussendlich hätten sie die Briefe wie ein Tagebuch lesen können, erzählen die beiden. Dass es auch an der Front sowie an der Heimatfront soziale Ungerechtigkeiten gab, haben die beiden Gymnasiasten herausgefunden.

Während Paul Lefmann in Frankreich an der Westfront, auf seiner Schreibstube im Quartier, von den unmittelbaren Folgen des Kriegswahnsinns verschont blieb, waren seine Kameraden in den Schützengräben Wind und Wetter und einem Dauergranatenfeuer ausgesetzt. So 1916 in der Hölle von Verdun. In der Schlacht fielen Hunderttausende Soldaten auf beiden Seiten für eine Handvoll Geländegewinne. Feldpostbriefe, in denen das sinnlose Massensterben kritisiert wurde, unterlagen nach 1916 der Zensur. Die Soldaten, die sie schrieben, gingen ein hohes persönliches Risiko ein, da sie wegen sogenannter "Wehrkraftzersetzung" sogar zum Tode verurteilt werden konnten, berichten die Autoren.

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Im gleichen Jahr sei es an der Bremer "Heimatfront" auch zu Hungeraufständen gekommen, haben die Schüler bei der Auswertung historischer Quellen herausgefunden. Nahrungsmittel waren knapp und die Preise explodierten. Beispielsweise stürmten im Frühjahr 1916 über 400 Frauen und Kinder eine Bäckerei, wie in dem Buch zu lesen ist. Zum Höhepunkt der schweren Versorgungskrise sei es dann im sogenannten Steckrübenwinter 1916/17 gekommen. Überhaupt ersetzten viele, nun berufstätige Frauen, in der Wirtschaft die einberufenen Männer.

Der 1893 geborene Pianist und Komponist Paul Lefmann, der als sogenannter Armierungssoldat für Logistik und Infrastruktur hinter der Front zuständig war, baute eine Bibliothek auf oder gab Konzerte im Fronttheater. Wie überhaupt die großbürgerliche, wohlhabende Familie in der Heimat ähnlich viele Privilegien wie Paul Lefmann genoss und diese gern mit ihm teilte. So bekam er öfter Pakete mit Delikatessen zugeschickt. Obwohl er den Ersten Weltkrieg unversehrt überstand, starb der Musiker doch schon im Alter von nur 36 Jahren 1929 an einer Blinddarmentzündung.

Sonst ist nicht viel bekannt über Paul Lefmann, dessen Kompositionen der promovierte Musikwissenschaftler Oliver Rosteck im Archiv für bremische und nordwestdeutsche Musikgeschichte im Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik der Universität Bremen neben den Briefen ebenfalls entdeckte und in der Reihe "musica bremensis" in der Edition Eres in Lilienthal herausbrachte.

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Info

"Bremer Feldpostbriefe 1916-1918. Briefwechsel des Musikers Paul Lefmann und seiner Familie" herausgegeben von Oliver Rosteck, sind als erste Veröffentlichung aus der Geschichtswerkstatt und dem Archiv der St. Johannis-Schule Bremen,  für neun Euro als Book on demand im Buchhandel erhältlich.

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