Wenn man so will, fährt der Zeuge am Freitagmorgen eine konsequente Linie. Egal, was der Vorsitzende Richter ihn zum Verschwinden von Jutta Fuchs fragt, seine Antworten lauten immer gleich: "Weiß ich nicht", "kann ich mich nicht dran erinnern", "das ist alles schon so lange her". Wer will es ihm verübeln? Er wird zu Ereignissen befragt, die mehr als 25 Jahre zurückliegen.
In der Nacht zum 26. Juni 1993 ist die 29-jährige Frau aus Farge spurlos verschwunden. Die Staatsanwaltschaft glaubt, dass ihr Lebensgefährte sie umgebracht hat. Sie hat den heute 58-Jährigen wegen Mordes angeklagt. Doch auch die Leiche von Jutta Fuchs ist niemals aufgetaucht, die Anklage muss sich auf andere Indizien stützen. Und auf Zeugen.
Wie schwer dieses Unterfangen ein Vierteljahrhundert nach dem vermuteten Verbrechen ist, zeigt der zweite Verhandlungstag in diesem Prozess geradezu exemplarisch. Und dabei ist es nicht einmal der eingangs erwähnte Zeuge, der dem Gericht Probleme bereitet. Der kann sich halt an nichts erinnern und wird deshalb schon nach zehnminütiger Befragung mit Dank entlassen. Von ganz anderem Kaliber ist da die beste Freundin der verschwundenen Jutta Fuchs. Ihre Vernehmung wird mehr als zwei Stunden dauern.
Die 56-Jährige ist felsenfest davon überzeugt, sich noch sehr genau zu erinnern. Selbst als das Gericht ihr mehrfach nachweist, dass sie damit falsch liegt, beharrt sie auf ihren Aussagen. Und das nimmt teilweise groteske Züge an. Wenn sie zum Beispiel von einem Brief erzählt, den ihr der Angeklagte knapp zwei Monate vor dem Verschwinden von Jutta Fuchs geschrieben hat und darin seine Partnerin aufs Übelste beschimpfte. Sie habe diesen Brief sofort zerrissen, sagt die Zeugin und auch nach einem Vierteljahrhundert ist ihre Empörung über das Schreiben unschwer zu erkennen. Aber sie habe den Brief damals doch der Polizei übergeben, wundert sich der Vorsitzende Richter, greift in die Akte und zieht das Schreiben für alle gut sichtbar hoch. Die Zeugin schüttelt den Kopf. "Kann nicht sein. Ich hab den Brief zerrissen. 150-prozentig. Mit Umschlag!"
Felsenfeste Überzeugung
Noch mehrfach hält der Vorsitzende Richter der Frau vor, was sie vor 25 Jahren bei der Polizei ausgesagt hat. Nein, das stimme so nicht, sagt sie heute. Kein Zögern, kein "ich kann mich nicht erinnern", sondern klar und bestimmt: "Das habe ich so nicht gesagt."
Die beiden Verteidiger des Angeklagten haken nur selten nach. Sie wissen, dass diese Widersprüche die ansonsten durchaus schlüssigen und überzeugenden Aussagen der Zeugin untergraben. Etwa ihre Schilderungen über den Druck, dem Jutta Fuchs vonseiten der Familie ihres Lebensgefährten ausgesetzt war. Regelrecht tyrannisiert worden sei die 29-Jährige, immer wieder hätten sich die Eltern des Angeklagten, mit denen sie unter einem Dach lebten, in die Erziehung ihres Kindes eingemischt. So dass sie am Ende einfach nur noch mit ihrem zweijährigen Sohn habe ausziehen wollen. Oder ihren detaillierten Bericht über die Umzugsvorbereitungen am Tag vor dem Verschwinden von Jutta Fuchs. Glücklich sei sie gewesen, habe sich auf die neue Wohnung, das neue Leben gefreut.
Nichts von dem, was die Zeugin über ihre Freundin erzählt, passt zu dem Bild, das der Angeklagte zum Verschwinden von Jutta Fuchs zeichnete. Zu dessen Mutmaßungen, dass sie ihr Kind zurückgelassen habe, um mit einem anderen Mann ein neues Leben anzufangen. Dass sie am Abend vor dem geplanten Umzug in einer Diskothek in Vegesack feiern war und dort gegen vier Uhr verschwunden sei. Oder zu der von ihm ins Spiel gebrachten Spur, die auf eine Flucht in Richtung Amsterdam verweist. "Quatsch. Nie im Leben. So war sie nicht", kommentiert dies die Zeugin. "Sie wollte sich früh hinlegen, um fit für den Umzug am nächsten Tag zu sein."
Doch dann kommt wieder die Konfrontation mit ihren Angaben bei der Polizei im Juni 1993: Der Angeklagte sei damals ein paar Tage später abends um 22 Uhr bei ihr in der Wohnung gewesen, hat sie damals ausgesagt. Und heute: "Nie im Leben war der in meiner Wohnung."
Am geplanten Umzugstag, als Jutta Fuchs nicht wie verabredet auftauchte, sei sie zum Haus des Lebensgefährten gefahren, berichtet sie am Freitag. Dort sei ihr der Angeklagte schon auf dem Hof entgegengekommen und habe ihr sofort gesagt, dass die 29-Jährige verschwunden sei. Von dieser Begegnung mit dem Angeklagten auf dem Hof vor dessen Haus erzählt sie detailreich und energisch. Doch dann zeigt der Vorsitzende Richter ihr das Protokoll ihrer damaligen Aussage vor der Polizei. Da hatte sie angegeben, dass dieses Gespräch vor der neuen Wohnung von Jutta Fuchs stattgefunden hatte, wohin der Angeklagte mit seinem Wagen gekommen war. Nun kommen auch ihr Zweifel: "Ich denke gerade, bin ich denn bekloppt in der Birne?"
Der Prozess wird am Dienstag, 21. August, um 9 Uhr fortgesetzt.