Als „brandgefährlich“ bezeichnet Bremens Verfassungsschutz-Chef Dierk Schittkowski die Querdenker-Szene, was vor allem mit deren Zusammensetzung zu tun hat. Bei den Bremer Querdenkern tauchten laut Schittkowski immer wieder alte Bekannte aus der Reichsbürgerszene und Teilnehmer aus rechtsextremistischen Milieus auf. Sie bekämen im Fahrwasser der Corona-Proteste gewaltigen Auftrieb. Übereinstimmend warnen der Verfassungsschutz in Bremen und Niedersachsen vor der zunehmenden Radikalisierung der Szene.
Die Bremer „Querdenker 421“ wurden bereits Anfang des Jahres vom Verfassungsschutz als „Verdachtsfall“ eingestuft. Den harten Kern der Gruppierung taxiert Schittkowski auf eine mittlere zweistellige Zahl. Der trete bei den seit Neuestem als „Spaziergänge“ verschleierten Versammlungen bislang nicht so aggressiv auf, wie man es aus anderen Großstädten und vor allem aus Sachsen kenne und habe nicht das dortige Mobilisierungspotenzial. Gleichwohl sei der Anstieg der Querdenker-Aktivitäten im Land Bremen und Bremerhaven nicht zu übersehen. Ähnliches meldet Niedersachsen.
Bestätigt in seiner Einschätzung sieht sich Schittkowski durch die Auswertung der Erkenntnisse über die „Spaziergänge“ am vergangenen Wochenende. Hier habe sich gezeigt, dass sich bekannte Rechtsextremisten und Reichsbürger bei den Demonstrationen geschickt an die Spitze der Bewegung setzten und andere „Spaziergänger“ beeinflussten. Obwohl sie im Vorfeld bei der Organisation der Demonstrationen nicht in Erscheinung getreten seien.
Dafür, dass die Proteste in Bremen bislang trotzdem vergleichsweise überschaubar blieben, nennt Schittkowski mehrere Faktoren. Wie andere westdeutschen Bundesländer sei Bremen mit Ostdeutschland nicht vergleichbar. Dort treffe die Corona-Politik vielenorts auf verfestigte und mengenmäßig weitaus größere rechtsextreme Szenen. Zudem gebe es in Bremen traditionell eine starke Gegenbewegung. „Alle, die versuchen, in Bremen Rechtsextremismus in größerem Umfang zur Schau zu stellen, wissen, dass sie sofort auf heftigsten Widerstand treffen.“ Da weiche man lieber ins niedersächsische Umland aus, nach Hamburg oder auch nach Berlin, wo weniger Gegenwehr zu erwarten sei.
Sehr unterschiedliche Motive
Die Ablehnung einer angeblichen „Corona-Diktatur“ und das ständige Wiederholen von Verschwörungstheorien verfange offensichtlich aus ganz unterschiedlichen Gründen bei Menschen aus den unterschiedlichsten Milieus, sagt Schittkowski, der von einer „Mischszene“ spricht. Das gleichsam prägende wie vereinende Element dabei: „die Ablehnung unserer demokratischen Ordnung.“
Unter den „Spaziergängern“ seien Personen, die vorher noch nie auf einer Massenkundgebung waren. Menschen mit Ängsten, die nicht wüssten, wie sie ihren Protest anders öffentlich äußern können. Sie träfen auf rechte Gruppierungen, die die Pandemie als Vehikel für ihre eigenen weitreichenderen Ziele nähmen. Dies vor allem bereite ihm Sorge, betont Dierk Schittkowski: „Dass diese Menschen den Falschen hinterherlaufen, sich mit ihnen vernetzen und sich dann unmerklich radikalisieren.“
49 Versammlungen mit Querdenker-Bezug hat die Bremer Polizei seit April 2020 erfasst. Aufzüge und stationäre Kundgebungen, zumeist unter dem Motto: „Gegen Mindestabstand, Maskenpflicht, Impfzwang und die geltenden Corona-Maßnahmen“, erklärt Pressesprecher Nils Matthiesen. Einmal gab es eine Kundgebung mit 700 Personen, meist lagen die Teilnehmerzahlen im zweistelligen Bereich. In dieser Größenordnung bewegen sich derzeit auch die „Spaziergänge“ in Bremen. Dabei handelt es sich angeblich um lose Treffen, zu denen in den Querdenker-Foren aufgerufen wird, um die Auflagen einer angemeldeten Versammlung zu umgehen. In Bremerhaven waren es an den beiden vergangenen Freitagen jeweils zwischen 300 und 400 Teilnehmer.
Deutlich größere Versammlungen fanden unlängst in Niedersachsen statt. Hier registrierte die Polizei auch Teilnehmerzahlen im vierstelligen Bereich. Vereinzelt kam es zu Rangeleien mit den Beamten. In der Analyse der zunehmenden inhaltlichen wie personellen Vermischung der Szene stimmt der niedersächsische Verfassungsschutzpräsident Bernhard Witthaut seinem Bremer Amtskollegen zu. „Wir müssen verhindern, dass sich eine Mischszene aus Rechtsextremisten, Reichsbürgern und Coronaleugnern und Querdenkern verfestigt, die zum Teil Gewalt als Mittel zur Erreichung ihrer demokratiefeindlichen Ziele befürwortet.“
Ein Ende dieser Versammlungen ist nicht abzusehen, im Gegenteil, vermutet Dierk Schittkowski. Durch die angekündigten neuen Einschränkungen werde der Protest "vermutlich noch einmal deutlich Fahrt aufnehmen".