Mit siebzig musste Barbara Kohout sich neu erfinden. Nach 60 Jahren treuer Gefolgschaft hatten die Zeugen Jehovas sie ausgeschlossen. Jetzt, sechs Jahre später, ist aus der gehorsamen Dienerin eine selbstbestimmte Frau geworden, die bekämpft, was sie einst gepredigt hat.
„Hinter mir liegt die schwierigste Zeit meiner 55 Jahre währenden Ehe. Für meine Familie war ich plötzlich eine Fremde, weil ich alte Fesseln abgeworfen habe. Aber nun ist alles gut“, so Kohout.
Gespannter Blick nach Bremen
Die 76-Jährige wohnt in Augsburg. In diesen Wochen aber ist ihr Blick nach Bremen gerichtet. Dass das Bundesverfassungsgericht den Beschluss der Bürgerschaft gekippt hat, Zeugen Jehovas nicht als Körperschaft öffentlichen Rechts anzuerkennen, ist für sie Ansporn, in ihrer Aufklärungsarbeit nicht nachzulassen. „Ich nehme meine Erfahrung, um anderen zu helfen“, sagt Kohout.
Sie hat die Selbsthilfegruppe SeelNot gegründet, betreibt eine eigene Internetseite, schreibt Bücher, gibt Interviews, tritt in Talkshows auf. Menschen bei Maischberger, Nachtcafé – überall erzählt Kohout, wie das System Zeugen Jehovas aus ihrer Sicht funktioniert. Warum sie von der Wachtturm-Gesellschaft (WTG) vor die Tür gesetzt wurde, könne sie nur erahnen, sagt Kohout.
Wahrscheinlich seien ihre Zweifel der Anlass dafür gewesen. Zweifel daran, dass die WTG-Lehren wirklich vom Geist Gottes bestimmt würden. Schon 2005 habe ihr ältester Sohn, ein bis dahin „sehr guter und eifriger“ Zeuge Jehovas, festgestellt, dass viele Lehren verändert worden seien.
Schließlich habe er die Organisation verlassen, und sie hätte nur noch unter einem Vorwand Kontakt zu ihm haben dürfen. Kohout: „Ich sagte, ich hätte begründeten Anlass zu dem Glauben, er würde in Reue zurückkehren.“ Tatsächlich – und dafür schäme sie sich heute – habe sie ihn entsprechend bearbeitet. „Ich war linientreu und gewissenhaft.“
Tochter stieg als erste aus
Kohout, deren Familie aus dem ehemaligen Jugoslawien stammt, kam mit zehn Jahren nach Deutschland. Die sich als unerwünscht fühlenden Exilanten schlossen sich den Zeugen Jehovas an, als diese vor ihrer Tür standen. Barbara Kohout war mit ganzem Herzen dabei, missionierte und wurde Predigerin. Ihre Tochter stieg mit gut 30 Jahren als erste aus. Nachdem ihr zunächst einer ihrer beiden Brüder gefolgt war, las Barbara Kohout „Der Gewissenskonflikt“ von Raymond Victor Franz. Der 2010 gestorbene Amerikaner, der in den USA dem Führungsgremium der Religionsgemeinschaft angehört hatte und ihr 1982 den Rücken kehrte, galt seitdem als ihr bekanntester Kritiker.
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Barbara Kohout las und begriff, „dass Richtlinien der Zeugen Jehovas nicht die Wahrheit sein können“. Sie gab das Buch ihrem Mann zum Lesen. Auch er, der als „Ältester“ eine herausragende Position inne hatte, sei nachdenklich geworden. „Ausgeschlossen wurde er dann, weil er seinen Auftrag als Familienoberhaupt nicht erfüllt hat – nämlich seine Frau daran zu hindern, sich mit Abtrünnigen zu beschäftigen.“
Gemeinsschaftsentzug
Was dann folgte, beschreibt Barbara Kohout in ihrem Internet-Tagebuch: „Gemeinschaftsentzug nennen sie das . . . Die Sanktionen bedeuten den totalen Verlust meiner sozialen Bindungen. Meine Zeugen Jehovas Familie und früheren Freunde mussten den Kontakt zu mir abbrechen.“ Kohout benennt Stellen im Wachtturm, die zur Isolation der Abtrünnigen aufrufen: „Der nahe Angehörige muss jetzt erkennen, dass man entschlossen Jehova über alles stellt – auch über die Familienbande . . . Suchen wir nicht nach Ausreden, um mit ausgeschlossenen Familienmitgliedern in Kontakt zu treten“, zitiert Kohout aus dem Wachtturm vom 15. Januar 2013.
Die totale Isolation sei eine Methode der psychischen Folter. Aussteiger hätten keinen Schutz gegen die offene Aufforderung zu kollektivem Mobbing und übler Nachrede in Wort und Schrift. Kohout: „Das alles wird nach Auffassung der Wachtturm-Gesellschaft durch den Artikel 140 des Grundrechts in Verbindung mit Artikel 137 legalisiert. Den Zusatz, dass die freie Ausübung der Religion nur soweit gewährleistet ist, wie sie die Rechte Dritter nicht verletzt, übersehen sie geflissentlich.“
Heute sieht Kohout in ihrer früheren Glaubensgemeinschaft eine „extremistische Sekte“, die ihre Mitglieder mit einer Vielzahl von Anleitungen unter Druck setze. „Das ist ein diktatorisches System. Ich verstehe nicht, dass das von unseren Verfassungsorganen nicht erkannt wird.“ So sei das innerorganisatorische Rechtsverfahren undemokratisch, sagt Kohout. Beschuldigte bekämen keine Anklageschrift und keine Urteilsbegründung, könnten keinen Verteidiger und keinen Entlastungszeugen benennen. Es gelte nur, was im internen Handbuch „Hütet die Herde Gottes“ festgeschrieben sei.
400 Mitglieder ausgeschlossen
Kohout verweist auf Vorfälle in Australien. Dort sollen die Zeugen Jehovas über Jahrzehnte hinweg den Missbrauch von Kindern durch Mitglieder vertuscht haben. Nach Medienberichten hat ein Funktionär vor der Untersuchungskommission in Sydney eingeräumt, dass belastende Dokumente vernichtet wurden, weil sie „nicht in falsche Hände“ geraten sollten. 1006 Anschuldigungen wegen Kindesmissbrauchs seien dokumentiert, doch sämtliche Fälle nur intern behandelt und nicht den Behörden gemeldet worden.

Barbara Kohout
400 Mitglieder der Zeugen Jehovas sollen vorübergehend aus der Gemeinschaft ausgeschlossen worden sein. Bei der Anhörung vor der Royal Commission kam heraus, dass in internen Verfahren sexuell missbrauchte Kinder von drei Männern befragt wurden. „Und zwar peinlichst intim. Über dieses Vorgehen war sogar ich erschüttert, die das System kennt“, sagt Kohout.
Ob Bremen die Zeugen Jehovas nach dem BVG-Urteil als Körperschaft öffentlichen Rechts anerkennt, wird sich nach Angaben eines Senatssprechers frühestens in drei bis vier Monaten zeigen. Wie berichtet, hätte nicht die Bürgerschaft in dieser Fragen beschließen dürfen, sondern der Senat muss entscheiden. Bevor es dazu kommt, wird es vermutlich erneut eine politische Diskussion geben.