Herr Böhm, als Arzt für Psychotherapie und Sozialmedizin arbeiten Sie seit vielen Jahren mit Drogenkranken zusammen. Wie blicken Sie auf die Situation am Bremer Hauptbahnhof und den gestiegenen Crackkonsum?
Ulrich Böhm: Die Suchtkranken, die am Hauptbahnhof und an anderen Brennpunkten in der Stadt landen, haben meist bereits einen langen Weg hinter sich, auf dem viel schiefgelaufen ist: sozial, interkulturell, beruflich. Die Probleme, die damit einhergehen, machen sich dort sehr deutlich bemerkbar und ich kann nachvollziehen, dass die Öffentlichkeit beunruhigt ist. Allerdings überschattet die Diskussion viele Probleme, die im Bereich Sucht da sind. Der Hauptbahnhof ist nur die Spitze des Eisbergs und spiegelt einen minimalen Ausschnitt wider.
Wie genau meinen Sie das?
Die meisten Suchterkrankungen laufen im Verborgenen ab und sind breit in unserer Gesellschaft verankert. Das Ausmaß ist also deutlich größer. Wenn man jedoch ein Problem wie den Bahnhof vor der Haustür hat, kann man sich natürlich einreden, dass es bei einem selbst gar nicht so schlimm ist. Da würde ich mir eine andere Einordnung des Gesamtproblems wünschen. Wenn man allein bundesweite Zahlen zu Alkoholerkrankten auf Bremen herunterbricht, sind etwa 25.000 Menschen davon betroffen. Für die gibt es längst nicht ausreichend Angebote.
Crack ist dennoch in aller Munde, da der Konsum weltweit stark gestiegen ist. Früher galt es eher als schmutzige Droge für arme Menschen und Minderheiten, während Kokain mehr in einer vermeintlich glamourösen Szene verbreitet war. Wie ist das heute?
Crack ist inzwischen in allen Gesellschaftskreisen angekommen. Etwa 20 Prozent unserer Patienten nehmen Kokain, darunter haben wir zunehmend Menschen, die mit Crack zu tun haben. Das war früher die totale Ausnahme. Im Grunde ist es nichts anderes als Kokain in einer besonderen Darreichungsform. Dafür wird das Kokain mit Natron gekocht. Aus der Verbindung entsteht so etwas wie ein Stein, der meist in einer Pfeife geraucht wird. "To crackle" kommt aus dem Englischen und beschreibt das Knistern, das beim Verbrennen entsteht.
Was macht die Droge so gefährlich?
Kokain ist die Droge mit der stärksten psychischen Abhängigkeit, das wird durch Crack noch mal potenziert. Es wirkt wahnsinnig schnell und verursacht einen intensiven Rausch, der nach etwa 15 Minuten jedoch schon wieder vorbei ist. Es macht die Menschen unmittelbar gierig nach einem neuen Kick. Das ist der Unterschied zum herkömmlichen Kokain, wo der Effekt länger anhält.

Ulrich Böhm ist Chefarzt und Leiter des Reha-Centrum Alt-Osterholz, in dem Drogensüchtige Wege aus der Abhängigkeit aufgezeigt bekommen sollen.
Ist man nach der ersten Pfeife bereits abhängig?
Das ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich, aber manche beschreiben eben, dass es sehr schnell geht. Einige unserer Patienten erzählen, es habe sie von Anfang an völlig willenlos gemacht.
Was passiert beim Konsumieren im Körper?
Die Droge steigert die Konzentration der stimulierenden Botenstoffe Dopamin, Noradrenalin und Serotonin im Gehirn und sorgt so für den "Kick". Selbstwertgefühl, Leistungsfähigkeit und Libido sind kurzzeitig erhöht und man hat viel weniger Hemmungen. Es ist ein Ausnahmezustand, in dem man keine Schmerzen oder Ängste spürt.
Was für Folgen kann der Konsum haben?
Crack kann psychisch und körperlich sehr schädigend wirken. Nach der ersten Euphorie tritt bei einigen Konsumenten ein paranoides Erleben ein. Sie leiden etwa unter Verfolgungswahn, sind misstrauisch und reizbar. Manche bekommen einen sogenannten Dermatozoenwahn. Sie bilden sich ein, sie hätten Ungeziefer unter der Haut und kratzen sich deshalb ständig, was zu offenen Wunden führen kann. Nach Abklingen eines Rausches fühlen sich viele leer und depressiv. Um dem zu entfliehen, wird dann wieder konsumiert und es entsteht ein Teufelskreis.
Und körperlich?
Das Rauchen von Crack kann zu Beeinträchtigungen der Lungenfunktion, Bluthochdruck sowie chronischer Appetitlosigkeit und Abmagerung führen. Zudem können Zustände mit schweren Wahrnehmungsstörungen auftreten. Kokain verengt auch die Gefäße. Ich habe leider schon sehr junge Leute erlebt, die Herzinfarkte oder Schlaganfälle bekommen haben. Viele leiden zusätzlich unter Zahnproblemen, da der Speichelfluss eingeschränkt ist.
Substitution, also einen Ersatzstoff wie Methadon für Heroinabhängige, gibt es für Crack bisher nicht. Was für Möglichkeiten haben Süchtige stattdessen?
Es gibt das Angebot der Entgiftung und Selbsthilfegruppen sowie eben längerfristige Maßnahmen wie unsere Rehaklinik, in der die Menschen drei bis sechs Monate bleiben. Aber dazu muss man erst mal bereit und in der Lage sein. Bei Opiaten kann man mit einer Substituierung nach einer Stabilisierung für weitere Angebote sensibilisieren. Man hat bei Cracksüchtigen verschiedene Dinge ausprobiert, wie den Einsatz von THC oder hat Geldanreize geschaffen. Das sind bisher aber alles eher hilflose Versuche, die nicht wirklich zielführend sind.
Wie läuft die Behandlung in Ihrer Einrichtung ab?
Wir verfolgen bei uns ein suchtmittelübergreifendes Konzept. Dafür prüfen wir im Vorfeld, aus welchem sozialen Umfeld unsere Patienten zu uns kommen und fassen Menschen aus ähnlichen Lebensumständen in Kleingruppen zusammen. Das soll keinesfalls als Wertung verstanden werden, sondern es geht dabei um den Bedarf der Betroffenen. Viele Suchtkranke funktionieren noch in ihrem sozialen Gefüge, stehen mitten im Leben, haben Familien und gehen ihrer Arbeit nach. Die haben andere Themen und Bedarfe als Menschen, die vielleicht nur noch wenige soziale Verbindungen haben und schon länger nicht mehr berufstätig waren. Dieses Konzept ist bundesweit einzigartig und hat sich sehr bewährt.
Und was für Therapieansätze verfolgen Sie?
Sucht ist in erster Linie ein Symptom. In der Reha geht es darum, zu verstehen, warum jemand zur Substanz gegriffen hat. Dafür gibt es eine intensive psychotherapeutische Behandlung in Kleingruppen und Einzelgesprächen. Wir versuchen, bessere Wege als den Konsum aufzuzeigen. Bei uns gibt einen Sport-Schwerpunkt, der bundesweit bekannt ist. Unsere Erfahrung zeigt, dass fast allen Kokain-Konsumenten Sport hilft.
Wie viele Ihrer Patienten schaffen den langfristigen Absprung?
Bei einer sehr strengen Rechnung kommen wir auf eine Erfolgsquote von 30 bis 40 Prozent, tatsächlich dürfte sie etwas höher liegen. Für alle bleibt die Suchterkrankung jedoch eine lebenslange Aufgabe. Einige Menschenkommen deshalb mehrfach zu uns.