Links, rechts, links, rechts – und das Ganze immer wieder von vorne. Die Augen hat Artur Ohanyan weit aufgerissen und die Pratzen fest im Blick, während er die Schaumstoffpolster mit präzisen Schlägen bearbeitet. Schlagfolgen übt der 26-jährige Boxer seit seiner Kindheit wie ein Besessener. Auf die richtige Handhaltung und eine saubere Ausführung kommt es an, erklärt der detailverliebte Athlet. Im Gym an der Otto-Brenner-Allee hängen Fotos und Zeitungsartikel an den Wänden, die dokumentieren, wie er mit dem Sport groß geworden ist. Die Pokale in der Vitrine zeigen, wie erfolgreich der Bremer, der seit 16 Jahren boxt, schon in jungen Jahren war.
"Ich habe immer davon geträumt, Profi-Boxer zu werden", sagt er. Seit gut zwei Jahren ist er es. Für den Traum musste er jedoch Tiefschläge einstecken und seine Freude am Sport wiederfinden, aber dazu später mehr. Denn Artur Ohanyans Fokus liegt auf dem wichtigsten Kampf seiner jungen Profi-Karriere. Wenn er am 7. Dezember in Aschersleben gegen Artur Reis in den Ring steigt, wird sich entscheiden, wohin die Reise für ihn geht. Erstmals boxt er um einen Titel – WBA Continental Championship Super Middleweight. "Wenn man den gewinnt, wird man bei den Profis ernst genommen."
Der Traum
Artur Ohanyan ist so etwas wie der Ernst auf zwei Beinen. Er lächelt nur dosiert, hört aufmerksam und mit ernster Miene zu. Der Mittzwanziger spricht gradlinig über sich und seine Ziele – ins Plaudern kommt er nie. "Ich bin auf den Titelkampf fokussiert", sagt er. Seinen Biorhythmus hat er schon lange auf den Kampf am Abend des 7. Dezembers ausgerichtet. Das Smartphone ist seit Wochen ausgeschaltet. Ablenkungen kann er sich nicht leisten.
Schließlich hat er lange auf diese Chance gewartet und zu viel in den Sport investiert, um jetzt nachlässig zu werden. Wenn man so will, fing sein Weg in den Sport mit seiner Geburt an. "Boxen liegt in meiner Familie", erklärt der aufstrebende Profi. Sein Vater, Trainer und Mentor Henrik war zu seiner aktiven Zeit der drittbeste Boxer der ehemaligen Sowjetunion. Er hat Artur zu dem dynamischen Kämpfer gemacht, der er heute ist. Papa Ohanyan, Typ Schleifer und Motivator, hält die Schaumstoff-Pratzen auf, die sein Sohn einschlägt. Er ist zuständig für die Gegner-Beobachtung, die Taktik und gibt die Anweisungen für den Kampf. "Die Beinarbeit hat er von Mohammed Ali, den schnellen Oberkörper von Mike Tyson, die Physis von Roy Jones und das taktische Verständnis von Floyd Mayweather", beschreibt Henrik Ohanyan seinen Sohn. Er glaubt fest daran, dass Artur das Zeug zum Profi hat, wenn er fokussiert bleibt.

Seit 26 Jahren Vater und Sohn, seit 16 Jahren Schützling und Trainer: Henrik Ohanyan (rechts) hat Artur zu dem Boxer gemacht, der er heute ist.
Mit Cousin Bagrat Ohanyan gab es noch ein weiteres Vorbild. Er stand beim Universum Box-Stall unter Vertrag, der Größen wie die Vitali und Wladimir Klitschko, Felix Sturm oder auch Regina Halmich promotet hat. "Durch Bagrat kam ich schon als Sechsjähriger in Kontakt mit Box-Weltmeistern. Ich wollte haben, was sie hatten", erklärt Artur den Einfluss seines nach schwerer Krankheit früh verstorbenen Cousins. Er redet davon, wie die Top-Athleten Werte wie Disziplin und Respekt verkörpert haben. "Ich will wie sie ein Vorbild sein", betont er. Und er will wie sie einen Titel gewinnen. Damit könnte er den Sprung zum Voll-Profi schaffen – und sich damit seinen Traum erfüllen.
Der Karriere-Tiefschlag
Denn eigentlich war Ohanyan auf dem besten Weg in Deutschlands Boxer-Elite. Der Bremer galt früh als großes Talent. Er gewann in der Jugend mehrfach die Landesmeisterschaft und die Deutsche-Meisterschaft, war Weser-Ems- und Norddeutscher Meister.
Vom TSV Osterholz-Tenever wechselte er in den Olympia-Stützpunkt nach Schwerin. In der Bundesliga trat er für den amtierenden Mannschaftsmeister BC Traktor Schwerin (zuletzt fünf Titel in Folge) an. Als Berufssoldat erhielt er Sportförderung und konnte sich auf das Boxen konzentrieren.

In der Bundesliga boxte Artur Ohanyan für den BC Traktor Schwerin.
Doch dann kam der Rückschlag. Herbst 2019: Wegen vermeintlichen Gewichtsproblemen habe der Verband den damaligen Nationalmannschaftsboxer aus dem Stützpunkt geschmissen, erzählt Ohanyan. Er träumte wie jeder Top-Athlet von der Teilnahme an den Olympischen Spielen. Als er die Nachricht erhielt, steckte er in der Vorbereitung auf die Spiele in Tokio. "Ich war damals im Mittelgewicht die Nummer eins in Deutschland. Selbst die Trainer im Stützpunkt konnten die Entscheidung nicht verstehen", sagt der 1,86-Meter-Mann, der heute etwa 75 Kilogramm auf die Waage bringt. Zu der Zeit fehlten Ohanyan auch die Bezugspersonen in Schwerin. Von der Einsamkeit im Osten der Republik ging es zurück in den Heimathafen nach Bremen.
Das Comeback
Der geborene Athlet stand nach drei Jahren im Stützpunkt ohne Sportförderung und mit einem geplatzten Olympia-Traum da. Der Karriere-Tiefschlag saß. Er pausierte einige Monate, bis er 2020 wieder in den Kampfmodus schaltete.
Der Anstoß für den Weg zurück in den Ring war ein Profi-Match eines befreundeten Sportlers. Das Feuer für den Sport, für den er seit Kindheitstagen brennt, loderte noch. "Aufhören war keine Option", sagt er. Ohanyan entschied sich für den Schritt in den Profisport und heuerte beim renommierten Box-Stall SES an. "Er ist einer der besten Boxer, die wir in Deutschland haben: technisch sehr stark, schnell, beweglich, sehr gutes Auge. Wir arbeiten jetzt daran, ihm die Freude am Boxen wiederzugeben", zitierte das Hamburger Abendblatt damals den Hamburger Landestrainer Christian Morales, der zu dieser Zeit in Trainerteam geholt wurde. Der Schritt ins Profitum bedeutete auch, den Traum von der Teilnahme an Olympischen Spielen endgültig zu begraben. Dort steigen nur Amateure in den Ring.
Immer einmal mehr aufstehen, als man zu Boden geht. Die Boxer-Weisheit gilt als abgedroschen und doch passt sie. Ohanyan kämpfte sich zurück, fand seine Freude am Sport wieder. Im Juli 2020 debütierte er. Neun Profi-Kämpfe, neun Siege, vier davon durch K.o. stehen bislang in seiner Bilanz.
"Das waren Aufbaugegner, die technisch nicht so gut waren und nur mit roher Gewalt boxten. Aber dadurch habe ich im Profi-Boxen Erfahrung gesammelt", erklärt der Linksausleger und betont: "Es ist etwas anderes als beim Amateurboxen – die Handschuhe sind kleiner und du stehst ohne Kopfschutz im Ring." Das Titel-Match im Dezember wird seine Reifeprüfung sein – und wenn es gut läuft auch sein Durchbruch.
Der Kampf
Ein WBA-Titel: "Damit klopft man als Boxer an die Tür zur Königsklasse an", betont Ohanyan. Eine Niederlage wäre ein schmerzhafter Leberhaken für die Karriere. Aktuell wandelt der Bremer zwischen den Welten. Den Profisport muss er mit seiner Arbeit ("mindestens vier Stunden pro Tag") als Lagerist bei Kühne + Nagel finanzieren. Der junge Vater hat eine Familie zu ernähren, will ein Vorbild für seine zehn Monate alte Tochter sein.
Mit einem Titel um die Hüften ist die Sponsorensuche einfacher und der Schritt zum Voll-Profi möglich. Zweimal pro Tag trainiert Ohanyan mit seinem Vater in der Boxhalle im Bremer Osten. Arbeit und Profi-Sport unter einen Hut zu bringen, schlaucht. "Abschalten ist schwierig. Musik hören hilft mir dabei", verrät er. Doch wer etwas erreichen will, muss aus hartem Holz geschnitzt sein, betont Vater Henrik. Die beiden wünschen sich dennoch mehr Unterstützung von ihrer Heimatstadt, aber das sei ein anderes Thema.
Die Motivation
Die Ohanyans sind Kämpfer. Sie beklagen sich nicht, sondern – nun ja – boxen sich nach guter alter Familientradition durch. An der Otto-Brenner-Allee haben sie eine kleine Talentschmiede geschaffen. An der Wand hängen Auszeichnungen und Fotos von den Kämpfern, die im Bremer Osten groß geworden sind. Artur ist für die Bremer Talente ein Vorbild, sagt Vater Henrik.
Von dem Ausgang des Titelkampfes am 7. Dezember hängt viel ab. "Druck und Stress muss man in Motivation umwandeln, wenn man an die Spitze will", sagt Vater Henrik und blickt auf seinen Sohn. Was treibt ihn an? Artur denkt nur kurz nach und sagt: "Meine Familie." Deswegen tritt er im Ring auch als "Artur Henrik" an – zu Ehren seines Vaters und Mentors.

Wollen an die Spitze: der Bremer Boxer Artur Ohanyan und sein Vater und Mentor Henrik.
Und natürlich will er es sich und allen anderen nach dem Aus im Olympia-Stützpunkt beweisen. "Ich wusste, dass ich es bereuen würde, wenn ich es nicht als Profi-Boxer versuche. Das hätte mich später im Alter zerfressen." Jetzt ist die Chance da, auf die Artur Ohanyan sein ganzes Leben hingearbeitet hat. Den Titel hat er fest im Blick.