Ihre Mama, sagt Kristina Hillmann, habe immer gesagt: Alles hat seine Zeit. Es klingt nach einem Allerwelts-Satz, gedankenlos schnell mal dahingesagt. Das kann aber trotzdem ein wichtiger und wuchtiger Satz sein, und Kristina Hillmann sagt, dass es bei ihr auf jeden Fall so ist. Sie steht gerade an der Schwelle zwischen Sport und Beruf, sie hat vor sechs Wochen ihre Hockey-Karriere beendet.
Sie ist angehende Ärztin und gerade im Praktikum. Vollzeit am Auguste-Viktoria-Klinikum in Berlin-Schöneberg, Neurologie. Um Viertel vor sechs muss sie aufstehen, im Krankenhaus begegnen ihr Schicksale und existenzielle Themen. Wird da nicht die Sportkarriere, wird da nicht Olympia als das Höchste im Sport etwas relativ Kleines? Sie wolle das nicht vermixen und vergleichen, sagt Hillmann. Natürlich relativiere sich der Blick auf die Zeit im Leistungssport, wenn man die Zeit in einem Krankenhaus dagegenstellt oder auch persönliches Schicksal. Ihre Mutter sei vor drei Jahren bei einem Segelunfall ums Leben gekommen, erzählt sie. Aber sie fände es unfair, daran die Wichtigkeit des Leistungssports, des Olympia-Traums für junge Menschen zu koppeln.
Und so ähnlich gehe es ihr auch beim Blick auf Olympia selbst. Sie kann die Kritik verstehen, dass die Spiele von Tokio, die am Freitag beginnen, jetzt durchgezogen werden sollen. Trotz Corona. Sie könne die Skepsis und die Sorgen verstehen. "Aber aus Sportlersicht bin ich voll bei den Athleten", sagt sie, "ich freue mich einfach riesig für sie." Sie weiß, was das heißt, sich in einem Fünfjahres-Zyklus statt in vier Jahren auf das große Ziel vorzubereiten. Sie hat selbst so viel hergegeben für das Ziel. Sie war einst als Bremer Oberschülerin mehrmals die Woche zwischen Bremen und Hamburg gependelt, wo sie trainierte und für den Uhlenhorster HC (UHC) auflief. Oft sei sie erst nachts um zwölf, halb eins wieder daheim gewesen. Schule, Bahn, Training, Essen, Schlafen. Über Monate und Jahre. "Mein Abi hab' ich quasi im Zug gemacht", sagt sie. Den Abiball verpasste sie, die Abifahrt auch. Wegen Hockey.
Und doch sagt sie auf die entsprechende Nachfrage: "Ja, auf jeden Fall war es das wert." Sie würde es wieder so machen, wenn man sie vor die Wahl stellen würde. Olympia sei das Nonplusultra. Es sei einfach dieses schwer erklärbare Geheimnis von Olympia. Dass sozusagen im Inneren eine Art Magnet wirkt, während draußen gern mal die Frage gestellt wird: Warum tut ihr euch das an?
Kristina Hillmann, 29 Jahre alt, ist keine Olympiasiegerin geworden. Aber sie kann ein gutes Beispiel geben, was Olympia für eine emotionale Wucht auf Sportler ausübt. Dass in Tokio die gewohnte Atmosphäre fehlen wird, dass es ganz andere Spiele als sonst werden, sagen fast alle Tokio-Fahrer. Dass sie dennoch sehr froh sind, dass die Spiele stattfinden, sagen auch fast alle.
Geboren in Basel, aufgewachsen in Bremen, war Kristina Hillmann 2012 in London dabei. 2016 in Rio nicht. Das eine, so reflektiert sie es am Ende der Karriere, war DER Höhepunkt des Sportlerlebens. Das andere DER Tiefpunkt. Gerade mal 20 war sie, quasi das Küken in der deutschen Nationalmannschaft, als sie vom Bundestrainer für London nominiert wurde. Sie war so aufgeregt, als die Ja-oder-nein-Mail kam. Sie öffnete die Mail zeitgleich mit ihrem Bruder, mit dem sie sich telefonisch verabredet hatte. Ihr Bruder musste ihr bestätigen, dass es wirklich stimmt: Ja, da steht, dass sie im Kader steht für die Spiele. Und auch wenn die deutschen Hockey-Damen in London die ersehnte Medaille verpassten, ist London für sie in der Erinnerung etwas sehr Großes. "Ich habe so viele Bilder vor meinem inneren Auge", sagt sie, "das bleibt."
Vier Jahre später war sie die Erste, die aus dem Olympiakader aussortiert wurde. Als der Bundestrainer sagte, er nehme sie raus, war ihre Wolke sieben im Hockeyhimmel weggekickt. Mehr als hundert Länderspiele hatte sie schon, sie war mit ihren blonden Haaren und dem fröhlich-freundlichen Gesichtsausdruck so etwas wie das Sonnenscheinchen im deutschen Nationalteam. Sie hörte auf mit Hockey, der geplatzte Olympiatraum wog zu schwer, um sich für ein Weitermachen oder den Jetzt-erst-recht-Modus entscheiden zu können. Sie hatte so viel investiert für das große Rio-Ziel, sie sieht gerade an ihren Kolleginnen am Berliner Klinikum, dass sie ohne den ganzen Rio-Aufwand schon weiter und fertige Ärztin sein könnte jetzt. Sie ging, kurz nach den Rio-Spielen ohne sie, nach Ungarn, in ein fremdes Land mit einer fremden Sprache. Und studierte.
Und bekam im Laufe der Zeit das Gefühl, dass es so nicht enden sollte, ihr Sportlerleben. Dass praktisch jemand für sie das Kapitel Leistungssport schließt. Sie wollte es selbst schließen und lief erneut für den UHC auf. Im Sommer 2021 sei es jetzt auch ein harter Cut, wenn die Klinik und nicht das Hockeyfeld ihr Hauptort wird. Man verlasse da quasi einen sicheren Hafen. Leistungssport gibt eine sehr feste Struktur vor. Aber es sei Zeit für ein neues Kapitel. Alles braucht seine Zeit. Sie ist froh, dass sie selbst bestimmen konnte, dass die Zeit reif ist für ein neues Kapitel.
Die Erfahrungen aus dem alten werden ihr für das neue Leben helfen. So reflektiert sie das, wenn sie zwischen Rückblick und Vorausschau pendelt. Die Sporterfahrungen, vor allem auch die extremen, hätten ihr sehr geholfen. In der Entwicklung der Persönlichkeit habe sie das sehr vorangebracht: Wie sie es in den Jahren während und nach der Abizeit mit großer Disziplin und großem Zeitaufwand geschafft hat, sich 2012 den Lebenstraum Olympia zu erfüllen. Obwohl sie doch dachte, dass das erst in Rio möglich ist. Wie Rio zur Enttäuschung statt zum Supererlebnis wurde und das verarbeitet werden musste.
So groß, wie die Rio-Enttäuschung war, so sehr hat sie ihren Frieden mit Olympia geschlossen. So sehr kann sie nachempfinden, wie es den Athleten geht, die von Tokio träumten und jetzt dort sind. Sie werde jedenfalls so viel Olympia gucken ab Freitag, wie es eben geht. Allerdings habe sie bemerkt, dass die Hockeyspiele nach deutscher Zeit vorwiegend nachts ausgetragen werden. Schwierig. "Aber wenn ich dadurch wach werde, dann passt das schon", sagt Kristina Hillmann. Sie muss ja jetzt schon aufstehen, wenn es fast noch Nacht ist. Jetzt, in ihrem neuen Kapitel.