Etwas mehr als ein Jahr ist es her, dass Lennard Kämna auf einmal Zeit hat. Für seine Freunde, Familie, einen Thailand-Urlaub. Denn Kämna, die große Hoffnung des deutschen Radsports, gönnt sich eine Pause. Nach verschleppten Erkältungen und Erkrankungen braucht der Fischerhuder eine Auszeit. Er verbringt sie zu Hause bei seinen Eltern, in seinem Kinderzimmer. Nun, etwa zwölf Monate später, geht Kämna am Sonnabend für das deutsche Team Sunweb bei der Tour de France an den Start. Ob er damals, während seiner Auszeit, damit gerechnet hätte? „Nein, auf keinen Fall“, sagt er heute.
Für den 22-Jährigen geht mit der Nominierung ein Kindheitstraum in Erfüllung: „Ich war immer schon ein riesiger Tourfan. So eine Atmosphäre gibt es bei keinem anderen Event.“ Früher stand er während des Familienurlaubs sogar selbst an der Strecke, zusammen mit den anderen Radsportanhängern, die ihren Idolen zujubelten und sie nach vorne peitschten. Auch Kämna sah den Tourgrößen Lance Armstrong und Alberto Contador aus nächster Nähe zu, wie sie Kilometer fraßen, Pedaltritt um Pedaltritt. Nun ist er einer von ihnen. Einer von 176 Fahrern, die sich drei Wochen lang über fast 3500 Kilometer von Brüssel nach Paris kämpfen.
Eigentlich hätte Kämna schon im Sommer 2018 sein Debüt beim bekanntesten Radrennen der Welt geben sollen. So hatte es Sunweb-Teamchef Iwan Spekenbrink zumindest zu Beginn der vergangenen Saison angedeutet. Doch anstatt mit den Teamkollegen die Große Schleife in Angriff zu nehmen, entspannte er im Garten seiner Eltern. Eine gute Entscheidung, wie er rückblickend sagt: „Die Auszeit hat mir geholfen, mich neu zu sortieren.“ Und sie gab ihm die Kraft, um wieder anzugreifen.
Dass er bei der Tour 2019 teilnehmen würde, war trotz erfolgreichen Comebacks alles andere als sicher: „Gefühlt standen die Chancen fifty-fifty“, erzählt er. Ende Juni aber stellte er seine starke Form bei der Tour de Suisse unter Beweis, bei der er den 17. Platz erreichte. „Da habe ich ein gutes Bewerbungsschreiben abgegeben“, sagt Kämna. Als er wenige Tage später erfuhr, dass er im Touraufgebot steht, war er „sehr, sehr erleichtert“.
Zu sehr mit der Brechstange versucht
Die Generalprobe indes hat er am vergangenen Wochenende verpatzt: Bei der deutschen Straßenradmeisterschaft auf dem Sachsenring in Oberlungwitz schied er vorzeitig aus. „Ich bin kein katastrophales Rennen gefahren, habe es aber zu sehr mit der Brechstange versucht“, resümiert er. Über seine Form sage das Abschneiden jedoch nur wenig aus. „Die ist ja nicht von der einen auf die andere Woche weg.“ Aus der Ruhe bringen lässt er sich nicht, so wie während seiner gesamten bisherigen Karriere: Aufstieg zum Riesentalent, Wechselwirbel, Erkrankung, Auszeit, Comeback, jetzt der Tourstart. Die Höhen und Tiefen, die so mancher Profisportler in seiner gesamten Laufbahn nicht erlebt, hat der 22-Jährige bereits hinter sich.
Angefangen hat alles mit seinem Vater Gerald und seinem vier Jahre älteren Bruder John, die ihn in jungen Jahren mit ihrer Leidenschaft für den Radsport ansteckten. Sein erster Verein war die Radrenngemeinschaft Bremen. Schon früh fiel sein Talent auf: In der neunten Klasse verließ Kämna den beschaulichen Künstlerort Fischerhude und zog in die Lausitz, nach Cottbus, wo er eine Sportschule besuchte und sich konstant weiterentwickelte. Im Jahr 2014 gewann er im U 19-Zeitfahren die deutsche Meisterschaft, wurde Europameister und holte Gold bei der Weltmeisterschaft. Im Anschluss wechselte das Riesentalent zu Team Stölting nach Nordrhein-Westfalen, was in und um Cottbus für Irritationen sorgte.
Eine Lokalzeitung schrieb gar vom „Radsport-Beben in der Lausitz“. Später schloss er sich dem Team Sunweb an, für das er im Jahr 2017 bei seiner ersten großen Rundfahrt startete, der Vuelta a España. Zudem gewann Kämna bei der U 23-Weltmeisterschaft Silber im Straßenrennen; mit den Teamkollegen wurde er Weltmeister im Mannschaftszeitfahren. Ein guter Zeitfahrer, dazu ein Leichtgewicht – mancher Experte sprach schon vom Jan-Ullrich-Nachfolger. Denn die Sehnsucht nach dem großen Radstar, sie ist in Deutschland weiterhin da.
Ein paar mehr gute deutsche Fahrer
Die Erwartungshaltung an Kämna ist nun, kurz vor seinem Tourdebüt, aber eine andere: „Mittlerweile hat sich das alles ein wenig verlagert“, sagt er. „Es sind ja auch ein paar mehr gute deutsche Fahrer dabei.“ Kämna gibt sich bescheiden. Wie immer. So auch bei der Bekanntgabe des Sunweb-Aufgebots vergangene Woche, als die acht Nominierten in einem Zusammenschnitt auf Youtube ihre Tourteilnahme mitteilen. Jeder von ihnen filmte sich mit dem Smartphone und sprach ein paar erklärende Worte, bevor er an den nächsten Fahrer übergab. Kämnas Video ist das mit Abstand kürzeste. Es zeigt ihn im Sattel sitzend, eine Baumreihe zieht hinter ihm vorbei. Unaufgeregt sagt er, dass er „sehr glücklich“ sei, ankündigen zu dürfen, dass er bei der Tour starten werde. Dann gibt er weiter – erleichtert, will man meinen.
Auch was seine Ziele für die Frankreich-Rundfahrt betrifft, ist der Fischerhuder genügsam: „Ich will mein Bestmögliches geben und erst mal nach Paris kommen.“ Ergo: die Tour überhaupt beenden. Am meisten Respekt hat er vor der ersten Woche, die „chaotisch und gefährlich“ sei.
Ohnehin stehe aber das Team im Fokus. Kämna sieht seine Aufgabe vor allem darin, den „Sprintleader“ seines Teams zu unterstützen – der in diesem Jahr aber nicht Tom Dumoulin ist. Der Niederländer fällt mit einer Verletzung aus, die er sich bei seinem Sturz Mitte Mai bei der Giro d’Italia zuzog. Den Gesamtsieg bei der Tour, den Dumoulin im Vorjahr als Zweiter knapp verpasst hatte, schrieb Sunweb daher ab. Für das Team geht es vielmehr um Etappensiege.
Hin und wieder wird während der Tour auch ein Teil von Kämnas Familie vor Ort sein. Seine Eltern verbringen ihren Campingurlaub in Frankreich, auch sein Bruder und seine Freundin haben ihr Kommen angekündigt. In diesem Sommer ist es also fast wie früher, als Familie Kämna gemeinsam an der Strecke stand, um den Tourteilnehmern zuzuschauen. Nur mit dem Unterschied, dass Sohn Lennard jetzt selbst dazugehört.
Interview mit Aike Visbeek
Herr Visbeek, was waren die Gründe, weshalb Sie Lennard Kämna für die Tour de France nominiert haben?
Aike Visbeek: Lennard ist in starker Verfassung, das hat man zuletzt vor allem bei der Tour de Suisse gesehen. Er hat gut gearbeitet, ist nach seiner Auszeit noch stärker zurückgekommen. Dass er bei der Tour mitfährt, ist eine Belohnung dafür, dass er so geschuftet hat. Für sein Alter ist er schon sehr weit.
Hat seine Nominierung auch etwas damit zu tun, dass Tom Dumoulin verletzungsbedingt ausfällt?
Nein, Lennard stand bereits auf unserer Liste, als Tom noch fest im Sattel saß. Auch wenn Tom bei der Tour starten würde, wäre Lennard dabei.
Was erhoffen Sie sich von Lennard?
Zuerst einmal soll er die Tour beenden. Man sagt, dass jeder Fahrer nach seiner ersten Tour etwa fünf Prozent mehr Leistung bringt. Er ist zwar jung, aber ich denke, dass er das schaffen kann. Lennard wird stärker werden, reifen. Die Tour bringt ihn auf ein neues Level. Gerade die Bergetappen werden ihm einen großen Schub geben.
Hat er das Zeug zum Jan-Ullrich-Nachfolger?
Nein, er wird immer Lennard Kämna sein. Von solchen Vergleichen sollte man ohnehin Abstand nehmen; dafür hat sich die Branche inzwischen viel zu sehr verändert. Lennard hat bisher einen hervorragenden Job gemacht und ist trotz seiner Erfolge auf dem Boden geblieben. Ihm steht eine große Karriere bevor – auch wenn er bis dahin noch einige Schritte zu gehen hat.
Die Fragen stellte Helge Hommers.
Aike Visbeek ist Coach des Rennradstalls Sunweb. Der Niederländer war vor seiner Trainerlaufbahn selbst Fahrer, musste seine Karriere wegen einer Knieverletzung aber frühzeitig beenden.