Für Kirill Gerassimenko kann es bei seinen dritten Olympischen Spielen im Vergleich zu seinen ersten beiden Teilnahmen eigentlich nur besser werden. 2016 in Rio war der Kasache, der seit fünf Jahren für den SV Werder in der Tischtennis-Bundesliga aufläuft, jung und unerfahren. "Es war so aufregend, vor den vielen Menschen zu spielen", sagt der 27-Jährige. Besonders laut in der Halle sei es gewesen, als er gegen den Ungarn Adam Pattantyus schon in der ersten Runde glatt mit 1:4 verlor. Damals hatte Gerassimenko das Pech, dass an seinem Nebentisch ein Brasilianer spielte, der von seinen Landsleuten auf den Tribünen frenetisch angefeuert wurde.
Fünf Jahre später, bei den wegen Corona auf 2021 verschobenen Spielen in Tokio, erlebte Kirill Gerassimenko atmosphärisch so ziemlich das Gegenteil von Rio. Da Publikum wegen der Pandemie nicht zugelassen war, wurden die Wettbewerbe als "Geisterspiele" ausgetragen. Was dem Kasachen in sportlicher Hinsicht jedoch nicht schadete. Diesmal zog er immerhin in die dritte Runde des Einzelwettbewerbs ein. In der Runde der besten 32 war gegen den deutschen Superstar Timo Boll allerdings Endstation.
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Weitere drei Jahre später hofft Kirill Gerassimenko darauf, unter die besten 16 zu kommen, also mindestens eine Runde mehr als 2021 zu überstehen. Kein leichtes Unterfangen, was keiner besser weiß als der Kasache selbst. "Ein frühes Aus kann bei großen Turnieren immer passieren", sagt er. Der Erfolg hänge von vielen Kleinigkeiten ab, die man selbst gar nicht kontrollieren könne. Zum Beispiel von der eigenen Verfassung ("Manchmal fühlst du dich morgens schon nicht gut"). Oder von der Stärke des Gegners ("Man braucht auch das nötige Losglück, um nicht gleich auf einen Chinesen zu treffen"). Oder einfach von Pech und Glück am Tisch, wo manchmal ein Netzroller oder ein Kantenball über Sieg und Niederlage entscheidet. "Aber wenn du dein Bestes gegeben hast und trotzdem in Runde eins ausscheidest, kann dir niemand einen Vorwurf machen. Dann gratulierst du deinem Gegner und musst weiter an dir selbst arbeiten."
Aus dem noch unerfahrenen Kirill Gerassimenko von 2016 ist inzwischen ein gestandener Profi geworden, der hart an sich gearbeitet hat, der weiß, was er kann, und der sich nicht mehr so leicht aus der Ruhe bringen lässt. So ruhig und besonnen er im olympischen Vorgespräch ist, so vom Kopf her ruhig spult er am Tisch sein Programm ab. Doch die Spielweise des Kasachen ist alles andere als ruhig. Er setzt auf spektakuläre Angriffe und leistet dabei meistens wesentlich mehr Laufarbeit als sein Gegner.
Dieser hohe Aufwand für den größtmöglichen Erfolg ist es auch, der den 27-Jährigen zweifeln lässt, dass er noch in höherem Alter wie zum Beispiel Timo Boll (43) auf Weltklasse-Niveau spielen kann. "Mein Vater sagt auch, dass ich noch viele weitere Olympische Spiele bestreiten kann", sagt Gerassimenko. Er selbst aber verspüre gelegentlich schon andere, warnende Signale seines Körpers, der zur Regeneration einfach mehr Zeit brauche als früher.
Zu viel am Tisch trainiert
So erscheint es nur logisch, dass zu Gerassimenkos Reifeprozess auch eine einschneidende Veränderung gehört hat. "Ich bereite mich jetzt ganz anders vor als 2016", sagt er. Früher habe er viel am Tisch trainiert – zu viel, wie er heute einräumt. Er hat zu sehr auf die Physis, also auf einen starken Körper, gesetzt. Und zu wenig auf seine mentale Verfassung. Um den Kopf so frei wie möglich zu bekommen, arbeitet Gerassimenko inzwischen mit einem Mentalcoach. "Heute trainiere ich nicht mehr wie ein Roboter", sagt er.
Schon als junger Teenager war er nach China gegangen, wo er nicht nur einem unglaublichen Drill ausgesetzt war, sondern auch lernte, was Disziplin bedeutet. Und ohne die ist ein Leben als Profi nicht möglich. Bei den Tischtennis-Profis kommen zu Training, Spielen und vielen privaten Entbehrungen die ständigen Reisen um die Welt noch hinzu. So hat Kirill Gerassimenko nur wenig Zeit für seine Ehefrau. Deshalb will er nach seinem Ausscheiden auch kein Olympia-Tourist mehr werden, sondern schnell nach Hause fahren.
Trotzdem hat Kirill Gerassimenko beim Turnier familiären Beistand: Sein Vater wird ihn wieder coachen. "Das gibt mir das Gefühl, nicht allein zu sein", sagt der 27-Jährige, "er gibt von seiner Seite aus für mich das Beste und stärkt damit mein Selbstvertrauen." Darum ist es beim Profi derzeit ohnehin ganz gut bestellt, nachdem er in diesem Jahr unter anderem schon die deutschen Weltstars Dang Qiu, Dimitrij Ovtcharov und Patrick Franziska geschlagen hat. Mit Hilfe des Mentalcoaches kommen ab dem 27. Juli möglicherweise weitere spektakuläre Siege hinzu.
Auf jeden Fall freut sich Kirill Gerassimenko riesig auf die Olympischen Spiele, die auch für ihn ganz besonders sind. "Sie finden nur alle vier Jahre statt, es gibt nur maximal zwei Spieler pro Nation – da spielen die Besten der Besten", sagt er. Voller Vorfreude blickt er auch auf die Begegnungen mit anderen Sportlern im olympischen Dorf. Gerassimenko ist in Paris einer von 80 Aktiven aus Kasachstan. "Dass wir alle gleich gekleidet sind, ist auch etwas Besonderes dieser Veranstaltung." Etwas traurig ist der Werderspieler nur darüber, dass er an der Eröffnungsfeier erneut nicht teilnehmen kann. Am Vorabend seines ersten Einsatzes würde sie die Vorbereitung zu sehr stören.