Die Dachdecker sind verschwunden. Schnell weg von diesem Ort, der in der Gluthitze des Sommers unerträglich ist. Da hilft auch die schöne Aussicht nicht, der Blick zum Dom, zum Fallturm an der Universität oder zum nahen Bahnhof. Hinzu kommt diese Arbeit – pechschwarzes Bitumen, das mit der Gießkanne verteilt wird, eine dampfende Masse, die das Heiße noch heißer macht. Die Dachdecker kommen früh am Morgen, machen eine lange Pause, nachdem sie den ersten Schwung geschafft haben, und legen erst gegen Abend wieder los. Anders geht es nicht, nicht bei diesen Temperaturen, da kann man trinken, so viel man will. Die Arbeiter haben sich Cola mitgebracht, eine Zwei-Liter-Flasche, die in der prallen Sonne steht. Der Anblick erinnert an einen Liedtext der Band Ideal: Die Cola kocht!
Die Dachdecker sind verschwunden, doch woanders auf der Baustelle wird gewerkelt, als wäre es auch unter diesen Umständen ein Tag wie jede andere, seit vor mehr als drei Jahren mit dem 100-Millionen-Projekt am Bahnhof begonnen wurde. Rund 200 Arbeiter, die in Zehn-Stunden-Schichten den Rohbau auskleiden. Die Fenster sind drin – das Startsignal für die Maler, Elektriker, Trockenbauer, Klimatechniker, Verputzer, Fliesenleger, Sanitärtechniker und Heizungsbauer. In dem Haus, das die beiden Hotels beherbergen wird, sind sogar schon Musterzimmer eingerichtet, damit der Betreiber einen Eindruck bekommt und Änderungen vornehmen kann. Viel Zeit ist ja nicht mehr, im Frühjahr will Ibis im sogenannten City Gate die ersten Gäste empfangen.
Der Sandstein an den Fassaden hat es bis fast nach oben geschafft, bis hinauf zur sechsten Etage auf den 27,5 Meter hohen Gebäuden. Ein heller Stein der Marke St. Louis, tellergestrahlt und gebürstet. Er ist so beschaffen, dass Zeit und Witterung keine Chance haben. Die Fassade soll nach Vorstellung des Bauherrn in 20 Jahren noch genauso aussehen und keine Patina ansetzen. Dunkel abgesetzt ist der Sockel, er trägt Granit.
Im September kommt der große Moment. Nicht von einem Tag zum anderen, dafür ist das Gerüst zu groß. Es wird eher eine Woche dauern oder länger, aber wenn die Gestelle erst einmal abgebaut sind, zeigt sich das erste der beiden Häuser in seinem Gewand. Dann schälen sich die Details heraus, der Stein, die Fenster, vor allem aber die Architektur mit einer Fassade, die von Etage zu Etage weiter einrückt. 40 Zentimeter ungefähr, die das jedes Mal ausmacht. Die Baukörper mit einer Mietfläche von zusammen 35.230 Quadratmetern sollen sich auf diese Weise ein wenig zurücknehmen. Max Dudler, der die Häuser entworfen hat, ein Architekt aus Berlin, wollte wuchtig bauen, aber auch elegant.
Die Kritik an den Bauten hatte sich nicht nur an der Größe festgemacht. Moniert wurde ganz grundsätzlich, dass vor dem Bahnhof kein großer Platz mehr ist, sondern hohe Häuser stehen. Der schöne Bahnhof verschwindet, beklagen die Gegner des Projekts. Die Fachleute halten dem entgegen, dass das 130 Jahre alte Gebäude durch die Neubauten nicht kleiner, sondern im Gegenteil größer wirke. Gesteigert werde dieser Effekt noch dadurch, dass die gut zehn Meter breite und 60 Meter lange Passage zwischen den beiden Häusern auf den Haupteingang des Bahnhofs führt. Der Durchgang ist ein Kompromiss der Planer, sie waren dem Wunsch der Stadt gefolgt, öffentlichen Raum zu schaffen oder besser: ihn in Teilen wiederherzustellen.
Tellergestrahlt und gebürstet
Die Rolltreppen kamen in der Nacht, wenn vor dem Bahnhof keine Straßenbahn fährt und niemand da ist, der beim Manövrieren der Transporter stören könnte. Ein ziemlicher Akt, die beiden 14 Meter langen und sechseinhalb Tonnen schweren Treppen ins Gebäude zu hieven. Eigentlich sollte das in einem Rutsch geben, aber keine Chance, jemand hatte falsch gerechnet, zwei auf einmal passten jedenfalls nicht hinein. Also mussten die Mechaniker noch eine Nacht drangeben, bis die Rolltreppen im Schacht verankert waren. Sie führen hinab ins erste Untergeschoss, wo sich die Supermarkt-Kette Rewe und das Kaufhaus Woolworth breitmachen werden.
Etwa 6000 Quadratmeter der Mietfläche gehen an den Einzelhandel und das Dienstleistungsgewerbe. Neben Rewe und Woolworth haben sich die Drogeriekette dm, eine Filiale der Backfactory, ein Kiosk und eine Eisdiele eingemietet. Es wird einen Schlüsseldienst geben und einen Ticketverkauf der Bremer Straßenbahn AG. Die gastronomische Seite decken das Pizza-Pasta-Restaurant Vapiano und die Burgerkette Hans im Glück ab. Nach Angaben des Investors, der Achim-Griese-Treuhandgesellschaft aus Hamburg, sind 85 Prozent der Flächen vergeben. Verhandelt werde auch mit einem Optiker und einem Apotheker. Das Parkhaus im zweiten und dritten Untergeschoss wird von den Brepark betrieben. Es umfasst 290 Stellplätze.
Die Griese-Leute fassen ihre Gefühle gegenüber dem bisher größten Projekt in der Firmengeschichte gerne mit einem Wort zusammen: Demut. Denn was hatten sie in den vergangenen Jahren nicht alles erlebt, und wie übergroß waren die Probleme. Eine 18 Meter tiefe Baugrube, die nicht standhielt, rundherum gab es Absackungen. In der Folge konnte die Straßenbahn nicht mehr fahren; die Hochstraße geriet in Schieflage, sie musste mit hohem Aufwand neu justiert werden. Als die Grube über viele Monate still lag und nicht gearbeitet werden konnte, bekam sie einen Spitznamen: das Bremer Loch.
Der Investor zog die Reißleine und warf den Tiefbauer raus. Es gab unterschiedliche Auffassungen über die Ursache der Absackungen und darüber, wer Schuld daran war. Gütlich einigen konnten sich die beiden Parteien nicht. Jetzt liegt die Sache in Hamburg vor Gericht. Es geht um Millionenforderungen. Pech auch mit der Firma, die für die Bauleitung zuständig war. Sie geriet in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Die Aufgabe musste neu vergeben werden. Und dann war da vor drei Monaten noch die junge Frau, die tot auf der Baustelle gefunden wurde. Sie hatte ein Schlupfloch im Zaun genutzt, war hindurchgeklettert und starb in einer stillen Ecke, mutmaßlich an einer Überdosis Heroin.
Das Bremer Loch ist Geschichte, der Rohbau fertig, und jeden Tag gibt es Fortschritte im Inneren der Häuser und an den Fassaden. Die Gebäude haben jetzt auch eine Adresse bekommen: Bahnhofsplatz 41 und Bahnhofsplatz 42. Was 20 Jahre lang nur Investorengrundstück hieß und von der Stadt trotz aller Bemühungen nicht losgeschlagen werden konnte, hat sich nun doch noch fürs Postverzeichnis qualifiziert.