Kirsten Tönnies sagt frei heraus, was sie von der Gebührenordnung für Tierärzte hält. Sie spricht von der Möglichkeit der Abzocke. Von veranschlagten Preisen, die dem Tierwohl mitunter genauso zuwiderlaufen können wie dem Tierschutz. Und von einigen Medizinern, die nicht wie andere von Fall zu Fall abwägen, sondern immer gleich den höchsten Satz nehmen: Zwei Zähne ziehen – 1300 bis 1500 Euro statt 400 bis 500 Euro. Computertomografie eines einzelnen Körperteils – 1050 statt 350 Euro. Künstliche Beatmung, maschinell – 256 statt 86 Euro je angefangene Stunde. Tönnies' Kritik ist Kritik an ihrem Berufsstand. Seit 30 Jahren ist sie Tierärztin in Hessen. Doch noch nie waren die Preissprünge mancher Praxen so spürbar wie jetzt.
Und so folgenschwer. Tierschutzorganisationen registrieren immer wieder Fälle, in denen Hunde-, Katzen- und Pferdehalter finanziell nicht mehr weiterwissen. Organisationen wie Tasso und Vier Pfoten zum Beispiel. Bei beiden melden sich inzwischen wegen erhöhter Gebühren und gestiegener Inflation regelmäßig Menschen, die um Geld bitten, weil sie Rechnungen für Behandlungen nicht bezahlen können. Wie der 67-Jährige, der 730 Euro an eine Praxis überweisen soll, aber nur auf eine monatliche Altersrente von 729 Euro kommt. Bei Vier Pfoten gibt es mittlerweile eine Rechtsanwältin, an die sich Tierhalter wenden können, wenn ihnen eine Kostenaufstellung zu hoch erscheint. Und die nachrechnet, was Veterinäre ausgerechnet haben.

Lauftherapie für den Hund: Für die Behandlung ihrer Tiere nehmen manche Tierhalter auch Kredite auf.
Laut Tierärztin Tönnies haben die Praxen durch die Gebührenordnung schon immer einen gewissen Spielraum, wie viel sie für was nehmen – und darum ein und dieselbe Behandlung bei verschiedenen Veterinären auch unterschiedlich kosten kann. Es gibt den einfachen bis dreifachen Satz. Und in Kliniken auch Sonderzuschläge etwa für Nacht- und Wochenenddienst. Dass es gestaffelte Gebühreneinheiten gibt, erklärt Tönnies damit, dass sich manche Tiere einfach behandeln lassen, andere nur schwer. Und damit mal weniger Aufwand betrieben werden muss, mal mehr. So gesehen, könnte das System ein gerechtes System sein. Wenn es ihr zufolge eben nicht die Möglichkeit offenließe, immer nach dem Höchstsatz abzurechnen.
Tönnies sagt, Rechnung gesehen zu haben, in denen für jede Kleinigkeit etwas kalkuliert wurde: nicht nur fürs Anlegen eines Verbandes, sondern auch fürs spätere Abnehmen und die Kontrolle zwischendurch. In denen stark beschädigte Zähne eines Hundes aufwendig behandelt wurden, statt sie gleich zu ziehen. Und in denen es unterm Strich um Tausende Euro ging statt um Hunderte, die ihrer Ansicht nach angemessen gewesen wären. Die Tierärztin geht davon aus, dass eine so hohe Rechnung für manche Tierhalter die erste und letzte ist, die sie bezahlen. Dass sie danach nicht mehr in eine Praxis gehen, auch wenn ihr Tier nicht gesund ist. Und dass der Veterinär somit am Ende gegen das Tierwohl gehandelt hat.
Birgitt Thiesmann argumentiert ähnlich. Die Mitarbeiterin von Vier Pfoten kennt immer mehr Fälle, bei denen Tierhalter ans Limit kommen. Die Rechnungen in Raten abbezahlen oder einen Kredit aufnehmen. Die bei sich sparen, damit ihr Hund oder ihre Katze behandelt werden kann. Oder die, wenn der Druck zu groß wird, keinen Ausweg mehr sehen und ihr Tier ins Tierheim bringen. Was ihr zufolge wiederum manche Heime in Bedrängnis bringt, weil in einigen Kommunen nur für Fundtiere ein Zuschuss gewährt wird, nicht aber für abgegebene Tiere. Thiesmann hat keine Statistik, aus der hervorgeht, wie häufig Tierhalter in finanzielle Not geraten. Sie glaubt aber, dass es mehr geworden sind, weil die Hilferufe per E-Mail mehr werden.
Auch Tiermedizinerin Tönnies hat keine genauen Zahlen. Sie schätzt aber, dass inzwischen 15 Prozent der Menschen, die in die Praxen kommen, nicht mal eben so eine Rechnung bezahlen können. Was ihr zufolge fünf Prozent mehr sind als vor Jahren. Als es noch keine Novelle der Gebührenordnung für Tiermediziner gab und noch keine Inflationsrate wie jetzt. Und die Praxen auch noch nicht so überlaufen waren. Tönnies sagt, dass es den Tierärzten deshalb nichts ausmacht, wenn Hunde-, Katzen- und Pferdehalter nicht mehr wiederkommen. Weil es nach ihren Zahlen immer weniger Tierarztpraxen und Tierkliniken im Bundesgebiet gibt, könnten sich die restlichen mittlerweile aussuchen, wen sie noch drannehmen.
Es ist wie bei den Haus- und Fachärzten für Menschen: Auch immer mehr Veterinäre haben längst einen Aufnahmestopp für Neupatienten. Mit der Folge, dass die laut Tönnies mitunter so dankbar sind, dass das Finanzielle bei ihnen manchmal weiter außer Acht gerät, als es geraten sollte. Sie findet, dass sich Tierhalter – ob mit wenig oder viel Geld – heute deutlich besser um ihre Tiere kümmern als früher. Und auch, dass das unterm Strich noch mehr Verantwortung für den Tiermediziner bedeutet, der Leid verhindern und nicht ans Verdienen denken sollte. Tönnies baut deshalb auf den nächsten Tierärztetag in Dortmund, bei dem im Oktober rund 500 Veterinäre zwei Tage lang vor allem über den Tierschutz sprechen wollen und wie er weiter vorangebracht werden könnte.
Thiesmann vom Verein Vier Pfoten setzt noch auf etwas anderes. Darauf nämlich, dass sich künftig weniger Menschen für ein Tier aus dem Ausland entscheiden, weil die deutschen Züchter die Nachfrage nicht decken können. Nach ihrer Erfahrung könnte auch das helfen, nicht nur Leid zu verringern, sondern auch finanzielle Probleme zu lösen. Thiesmann sagt, dass viele Tiere, die über die Grenze kommen, so krank sind, dass nicht selten für eine Behandlung auf einen Schlag gleich mehrere Tausend Euro fällig werden. Sie weiß das, weil sie dabei ist, wenn die Polizei gegen illegalen Welpenhandel vorgeht. Und die Hunde untersuchen lässt – zum Beispiel von Tierärztin Tönnies. Sie und Thiesmann sind bei solchen Einsätzen inzwischen ein Team.