Blumenthal. Rhythmische Sportgymnastik macht süchtig. Darüber sind sich Nicole Gerdes, Samia Lange sowie Steffanie und Marion Nitschke einig. Schon als kleine Kinder standen sie für den Blumenthaler TV auf der Wettkampffläche, und als die sportliche Karriere im jungen Erwachsenen-Alter vorbei war, gehörte das Quartett zu den Gründungsmitgliedern der Gruppe Gymnastik und Tanz, die nun bereits im 20. Jahr auf nationaler Ebene das Maß aller Dinge ist.
„Es soll nicht überheblich klingen, aber wir haben die Sportart Gymnastik und Tanz geprägt. Wegen uns hat sie sich ein Stück weit in Richtung RSG entwickelt“, erzählt Nicole Gerdes beim gemütlichen Kaffeekränzchen. Dieser Prozess begann 1998 beim Deutschen Turnfest in München. Dort nahmen die vier Blumenthalerinnen mit ihren damaligen Mitstreiterinnen zum ersten Mal an den deutschen Meisterschaften teil – ein Ereignis, das dem Quartett immer in Erinnerung bleiben wird.
Doch bevor es so weit war, hingen die Wettkampf-Gymnastinnen nach der aktiven Laufbahn erst einmal in der Luft. Die RSG bot damals kein Auffangbecken für junge Erwachsene, die sich aus dem Wettkampfbetrieb zurückziehen, aber ihren Sport weiter ausüben wollten. Das Trainingspensum von 100 Prozent auf null zu reduzieren, das wollte keine der jungen Frauen. „Deshalb haben wir es zuerst mit Wettkampf-Aerobic probiert. Aber wir merkten schnell, dass wir dafür körperlich zu schwach sind“, verrät Nicole Gerdes.
Da fühlte sich „Gymnastik und Tanz“ schon besser an. Nachdem Unterlagen und Ausschreibungen zur Sportart vom Deutschen Turner-Bund besorgt waren, machten sich die Nitschke-Zwillinge, Sami Lange, Nicole Gerdes, die von Beginn an zusätzlich die Trainerinnenrolle übernommen hatte, und weitere acht ehemalige Wettkampf-Gymnastinnen ans Werk. Um an den bevorstehenden deutschen Meisterschaften teilzunehmen, mussten zwei Choreografien entwickelt werden.
Dabei stellte der Gymnastikpart mit Keulen und Reifen kein Problem dar. Schwieriger war es, für den Tanz eine gesunde Mischung zwischen Show und Wettkampfsport zu finden. Das sollte auch in den folgenden 20 Jahren so bleiben…
„Wir wollen Stimmung auf der Bühne und haben immer den Ehrgeiz, das Publikum mitzureißen. Das kam und kommt auch heute noch nicht besonders gut bei den Kampfrichtern an“, verrät Nicole Gerdes.
Ahnungslos in München
Doch zurück nach München: „Wir hatten überhaupt keine Ahnung, was da auf uns zukommen würde“, erzählt Samia Lange. Rund 20 Gruppen waren für die Titelkämpfe gemeldet, und die BTV-Mannschaft stach schon bei der Stellprobe aus allen heraus. „Wir waren total diszipliniert. Das kannten wir so aus der RSG. Während wir uns im Überspagat warm gemacht haben, haben die anderen mit Besenstöcken, Tüchern oder mit bunten Wasserflaschen geübt“, erinnert sich Marion Nitschke schmunzelnd. „Wir hatten den Eindruck, dass die meisten Mitbewerber vom ‚Muttisport‘ kamen. Und es gab sogar eine Männergruppe“, fügt Nicole Gerdes lachend hinzu.
Doch trotz der augenscheinlichen Überlegenheit der Neueinsteiger lief es nicht gut für die Blumenthalerinnen. Denn sie hatten das „Kleingedruckte“ in der Ausschreibung überlesen und mussten nach dem ersten Durchgang den gesamten Tanz umgestalten. „Wir hatten eine Choreografie mit Hüten und Jacken, die wir im Laufe der Darbietung abgelegt haben. Das Ausziehen von Kleidungsstücken war aber nicht erlaubt“, erklärt die Trainerin.
Obwohl der BTV wegen Missachtung der „Kleiderordnung“ mit hohen Punktabzügen bestraft worden war, reichte es gleich beim Debüt zum ersten deutschen Meistertitel. Allerdings mit einem kleinen Haken: „Erst bei der Siegerehrung haben wir erfahren, dass wir uns Platz eins mit dem Team aus Traunstein teilen mussten. Da waren wir total enttäuscht und zickig. Und die Tränen kullerten“, erinnert sich Nicole Gerdes. „Zu allem Überfluss hat uns deshalb das Publikum ausgebuht. Das war richtig krass“, erzählt Samia Lange.
Das Gefühls-Chaos war damit aber noch nicht beendet: Es gab nämlich einen attraktiven Preis für den deutschen Meister – aber nur für einen. So mussten Kopf oder Zahl der geworfenen Münze darüber entscheiden, welches der beiden Siegerteams die Reise zum „Festival Blume“ auf Gran Canaria gewinnen würde. Nicole Gerdes war es, die mit „Kopf“ die richtige Wahl getroffen hatte. Der Trip auf die Kanaren mit der ganzen Gruppe sei ein tolles Erlebnis gewesen.
All das ist lange her. Mittlerweile ist das sportliche Niveau gestiegen, denn viele ehemalige Leistungssportlerinnen aus der RSG messen sich jetzt in der Sparte „Gymnastik und Tanz“. Bei den Blumenthalerinnen, die seit etlichen Jahren zwei Mannschaften ins Rennen schicken, ist die Begeisterung ungebrochen. „Wir brauchen die Musik, die Geräte und uns“, bringt es Steffanie Nitschke auf den Punkt. Auch privat sind die Frauen der ersten Stunde unzertrennlich. Sie sind sich gegenseitige Seelenklempner, Berater in Kinder- und Familienfragen oder einfach nur Tratschpartner.
Ehrgeizig sind die vier noch immer, wobei sich das gemeinsame Training schwierig gestaltet. Oft fehlt einfach die Zeit, denn alle vier Frauen haben Kinder und sind beruflich eingespannt. Ans Aufhören denkt aber niemand. Die Vorbereitungen und die Teilnahme am Meisterschaftszyklus gehören zum Leben der Sportlerinnen. Und aufregend sind die Titelkämpfe jedes Jahr aufs Neue.
„Ja, auch die vergangene deutsche Meisterschaft werden wir wohl nie vergessen“, glaubt Samia Lange. Der Abonnementmeister war diesmal in Minimalbesetzung von sechs Aktiven dabei und hätte beinahe nicht an den Start gehen können. Die Tickets für die Flüge nach Stuttgart waren schon gebucht, da musste Samia Lange aus beruflichen Gründen passen und wollte abends nachkommen. Als ihr Flug dann kurzfristig storniert wurde, stand die DM-Teilnahme der Gruppe auf der Kippe. „Ich habe heulend die Mädels angerufen, und wir haben zusammen fieberhaft nach einer alternativen Anreisemöglichkeit gesucht. Nach acht schlimmen Stunden war ich dann per Bahn und Taxi bei der Mannschaft“, erzählt die Gymnastin.
Belohnt wurde die Crew, die seit 2013 in der Seniorinnenklasse plus 30 antritt, erneut mit dem DM-Titel – ihrem 18. Komischerweise werde es trotz fortschreitenden Alters immer schlimmer mit dem Lampenfieber vor den Meisterschaften, verraten die vier Sportlerinnen. „Die Kraft weicht aus dem Körper und man steht kurz vor der Ohnmacht“, so beschreibt Samia Lange ihr Gefühl vor dem Auftritt: „Warum tut man sich das an?“
Die Antwort auf die rein rhetorische Frage kennen die vier Gymnastinnen natürlich: Sie sind süchtig.