Es ist der 2. Oktober 2015, ein Freitag, als Ali Alizadeh die Sporthalle das erste Mal betritt. Während sich Deutschland auf die Feiern zu 25 Jahren Wiedervereinigung vorbereitet, ziehen im Bremer Ortsteil Borgfeld in der Daniel-Jacobs-Allee die ersten 50 Jugendlichen in die Turnhalle ein. Der 17-jährige Ali Alizadeh weiß damals nicht, was ihn erwartet, weder in diesem Land noch in dieser Sporthalle. Die Sportgeräte sind weggeräumt, ein Holzfußboden eingebaut und Feldbetten aufgestellt worden. Wenn Ali Alizadeh heute auf die Monate in der Halle zurückblickt, sagt er: „Ich habe großes Glück gehabt.“
Ali Alizadeh ist einer von mehreren tausend Menschen, die 2015 in Bremen innerhalb kürzester Zeit untergebracht werden müssen. Die Kriege und Krisen in Syrien, Afghanistan, Irak, Eritrea und die Hoffnungslosigkeit in vielen afrikanischen Ländern treibt mehr als 10.000 Menschen in das kleinste Bundesland. Bundesweit sind es mehr als eine Million.
Ab Mai steigt in Bremen die Zahl der Asylsuchenden rapide. Der Platz in Unterkünften reicht nicht mehr aus. Es werden Zelte und Container aufgestellt, Geflüchtete kommen in Fahrzeughallen der Bundeswehr unter. Doch auch das reicht nicht. Deshalb werden 20 Bremer Turnhallen zu provisorischen Flüchtlingsunterkünften. Viele Sportler helfen gerne, manche aber sind sauer, weil Trainings ausfallen oder an andere Orte verlegt werden müssen.
„Man muss positiv denken“
Vier Jahre später hat der WESER-KURIER versucht herauszufinden, was aus Menschen geworden ist, die damals in der Sporthalle nahe der Grundschule Am Borgfelder Saatland lebten. Der WESER-KURIER hat mit der Unterstützung des ehrenamtlichen Flüchtlingshelfers Uwe Rosenberg einige der unbegleiteten minderjährigen Jungs getroffen, die damals in der Halle untergekommen waren.
An einem Tag im August 2019 steht Ali Alizadeh, der wenige Tage zuvor 21 Jahre alt geworden ist, nach langer Zeit wieder einmal vor der Sporthalle in Borgfeld. Er zeigt auf den Basketballplatz davor und sagt: „Der Asphalt ist neu!“ Das angrenzende Freizeitheim löst schöne Erinnerungen bei ihm aus. Hier hat er sich ein Jahr lang jeden Sonntag mit anderen Geflüchteten und Ehrenamtlichen getroffen. In Borgfeld hat sich damals eine ganze Gruppe von Freiwilligen gebildet, die mit den Jungs aus der Sporthalle Deutsch gelernt, Sport gemacht oder ihnen Praktika vermittelt haben. Über seine Zeit in der Halle sagt der junge Mann: „Ich habe nur gute Erinnerungen.“
Wieso ist er überhaupt nach Deutschland gekommen? „Der Plan war nicht, dass ich nach Deutschland komme“, sagt Ali Alizadeh. Er wollte aber weg von dort, wo er war. Weg aus dem Iran, wo er als Afghane ohne rechtlichen Status lebte. Weg aus der Türkei, wo er für wenig Geld viel arbeitete. Er wollte weiter, weil es zurück nicht mehr gegangen sei. Als er in der Sporthalle ankommt, mit regelmäßigen Mahlzeiten, ist das für ihn „Luxus“.
Vier Jahre viel gearbeitet
In den vier Jahren hat sich vieles verändert. Als die Sporthalle im Februar 2015 geräumt wird, zieht er in eine andere Flüchtlingsunterkunft, später in eine Wohngemeinschaft mit zwei Deutschen und einem Afghanen. Im Iran habe er Abitur gemacht, sagt er, das sei ihm in Deutschland als Hauptschulabschluss anerkannt worden. Ali Alizadeh macht Praktika und arbeitet als Altenpflegehelfer. Er lernt Deutsch, um nicht „taub“ zu sein, wie er sagt. Er spricht mittlerweile fließend und korrigiert sich, wenn er merkt, dass er einen Fehler gemacht hat. „Wenn ich jemals zu meiner Familie in den Iran zurückkehren sollte, wird sie fragen: Was hast du gemacht?“, sagt er.
Ali Alizadeh lacht viel, er sagt: „Man muss positiv denken“. Der Afghane mag Bremen, auch wenn er nicht weiß, ob er dauerhaft bleiben darf. „Bremen ist eine kleine Stadt, alles ist gut erreichbar“, findet er. Er fahre gern ans Wasser, an die Weser zum Beispiel oder an die Nordsee.
In Borgfeld hat der 21-Jährige Menschen getroffen – Uwe, Silke und Lea zum Beispiel –, die ihn unterstützen. Er weiß, dass das nicht jeder hat. „Ich bin dankbar“, sagt er. Über Uwe Rosenberg hat er ein Praktikum bei einem Computerladen vermittelt bekommen. Rosenberg ist es auch, der Ali Alizadeh mit zu einer Theatergruppe nimmt. Er sollte das Licht und den Ton steuern, obwohl er kaum den Text verstehen konnte. Also haben die anderen ihm die Stellen im Skript markiert. Mit seiner einstigen Deutschlehrerin Silke kocht oder arbeitet er im Garten. Lea hilft ihm, als er 2017 in eine große Krise gerät.
Zwischen Streit und Hoffnung
„Ich habe in einem Monat alles verloren“, berichtet Ali Alizadeh. Ein Streit in der WG, sein Mentor bricht weg, er verliert seinen Job, und die Behörden lehnen seinen Asylantrag ab. Lea trifft sich kurz nach seinem verzweifelten Anruf mit ihm. Er findet eine neue Wohngemeinschaft, schöpft Hoffnung, schreibt Bewerbungen und beginnt eine Ausbildung als Rettungssanitäter. „Ich will was erreichen und was wichtiges machen.“ Früher habe er immer zu den Vereinten Nationen gewollt, um anderen Geflüchteten zu helfen.
Seit Alizadeh 21 Jahre alt ist, hat er keinen rechtlichen Betreuer mehr. Alleine steht er trotzdem nicht da, auch, wenn er sagt, dass er nicht viele deutsche Freunde habe. Vor kurzem hat er seine Abschlussprüfungen in der Ausbildung zum Rettungssanitäter bestanden. „Ich bin jetzt offiziell Rettungssanitäter“, sagt er freudig am Telefon. Seinen Führerschein hat er auch bestanden, endlich. Er musste die Prüfung wiederholen, er vermutet, es war die Aufregung, die ihn zuerst durchrasseln ließ. Jetzt macht er gerade den C1-Führerschein für 7,5-Tonner, damit er auch Rettungswagen fahren darf. Einen Job hat er noch nicht gefunden. „Aber es wird schon“, sagt er und klingt zuversichtlich.
Weitere Informationen
In der nächsten Zeit wird der WESER-KURIER noch über weitere junge Männer berichten, die vor vier Jahren in der Sporthalle an der Jacobs-Allee gelebt haben.