Pssst – bitte Ruhe: So lautet wohl das bekannteste aller ungeschriebenen Gesetze beim Bibliotheksbesuch. Schließlich sollen sich die Besucherinnen und Besucher einer Bücherei dort ruhig und ungestört in Bücher vertiefen und deren Inhalte studieren können.
Alles andere als still geht es allerdings in der Gröpelinger Zweigstelle der Stadtbibliothek zu, die an diesem Donnerstag 25 Jahre alt wird. Ein ganz normaler Nachmittag sieht dort ungefähr so aus: An einem Tisch im Erdgeschoss bedrucken mehrere Mädchen im Grundschulalter Stoffe mit selbst hergestellten Stempeln, während sich an einem zweiten Tisch ganz in der Nähe mehrere Frauen unterhalten. In einigen Sesseln sitzen mehrere Männer unterschiedlicher Nationalitäten, die in ihre Mobiltelefone vertieft sind und drei Jungs spielen lachend am Computer. Auf der Galerie im Obergeschoss – Zutritt ab zwölf Jahren – haben es sich mehrere Mädchen-Gruppen an Tischen bei den Fenstern gemütlich gemacht, um etwas für die Schule vorzubereiten und sich über Neuigkeiten im Freundeskreis auszutauschen. Und schließlich ist da noch der ältere Herr, der durch die Regalreihen schlendert und offenbar Lektüre zum Ausleihen sucht. Die Gröpelinger Bibliothek – ein Ort der Ruhe? Definitiv nicht. Eher ein Ort der Begegnung. Weiterhin aber auch ein Informationszentrum.
Von Schachturnier bis Erzählfestival
Was sich an ihrem Beispiel gut veranschaulichen lässt: Das Konzept der Bibliothek hat sich verändert. Der Trend gehe weg von der bloßen Informationsgewinnung über Print-Medien hin zu einer Art Schnittstelle zwischen den Bürgern, ihren Interessen, der Verwaltung und dem Medienzugang, sagt Zweigstellenleiter Andreas Gebauer. 85.000 Entleihungen gab es ihm zufolge im vorigen Jahr noch in Gröpelingen, vor Corona seien es etwa 130.000 gewesen. Weiterhin kommen dabei aber täglich viele Menschen in das markante ovale Gebäude an der Lindenhofstraße, in dem pro Jahr rund 230 Veranstaltungen vom Schachturnier bis zum Erzählfestival „Feuerspuren“ stattfinden.
Gebauer spricht von der Bibliothek als „drittem Ort“. Dieser aus der Soziologie stammende Begriff bezeichnet Orte der Gemeinschaft außerhalb von Familie und Beruf. So seien zum Beispiel in Dänemark Bibliotheken „seit vielen Jahren so ausgerichtet, dass sie auch Bürgerzentren sind.“
Verschiedene Gründe für den Besuch
Die Menschen kommen demnach aus den unterschiedlichsten Gründen in die Stadtbibliothek West: weil es freies W-Lan gibt, weil man sich dort treffen kann ohne etwas verzehren zu müssen und auch weil die Suppenengel auf dem Gröpelinger Bibliotheksplatz täglich Essen austeilen und die Bibliothek sich an der Aktion „Nette Toilette“ beteiligt. Und, ganz wichtig, so Gebauer: „Wir haben den besten Farbkopierer im ganzen Stadtteil.
“Was außerdem eine wichtige Rolle spielt: Hier gibt es Unterstützung und Beratung für nahezu sämtliche Lebenslagen. Der Gesundheitstreffpunkt West (GTP) informiert in seinem Büro zu Gesundheitsangeboten, die Verbraucherzentrale bietet Rechtsberatung an und der Bürgerinformationsservice gleich neben dem Eingang vermittelt den Kontakt zu Ansprechpartnern in Bremens Behörden. In der Bibliothek treffen sich verschiedene Selbsthilfegruppen, der Malteser Hilfsdienst lädt Menschen mit und ohne Migrationshintergrund zum Sprachcafé ein, das Jobcenter berät Menschen, die eine Beschäftigung suchen, und die Beratungsstelle Ankommen im Quartier unterstützt Geflüchtete auf dem Weg in ein eigenständiges Leben. Regelmäßig lädt das Mobile Atelier von Kultur vor Ort die Kinder und Jugendlichen aus der Nachbarschaft zum Zeichnen, Malen und Basteln ein, und mit dem GTP wird auf dem Gröpelinger Bibliotheksplatz gegärtnert.
„Dass so viele Ressorts unter einem Dach zusammenarbeiten, gibt es sonst nicht. Und es gibt viele verschiedene Anlässe, um ganz breit alle anzusprechen – Ausstellungen, Beratung, Veranstaltungen. Eigentlich gibt es nichts, weswegen man nicht hierher kommen könnte. Vielleicht fehlt höchstens noch ein Friseur“, sagt Gebauer.
Verändertes Berufsbild
Mit dem Wandel der Bibliothek verändere sich auch das Berufsbild des Fachangestellten für Medien: Weg von der reinen Informationsberatung, sagt Gebauer: „Ein Großteil besteht darin, diesen Raum zu moderieren. Wir sind Gastgeber, und die Leute kommen mit ihren Bedürfnissen. Das ist manchmal auch sehr anstrengend.“ Zum Beispiel, wenn der Geräuschpegel zu extrem werde oder mal ein Kind anfange, die Regale auseinanderzunehmen: „Da müssen wir dann sehen, wie wir so etwas im Team lösen und dabei nicht die Lust an der Arbeit verlieren“, sagt Gebauer. „Es bilden sich dabei ja auch Beziehungen, und wir sehen ja, wie die Kinder sich entwickeln.“ Besonders freut Gebauer, dass sein sechsköpfiges Team stabil und seit einiger Zeit auch recht divers aufgestellt sei: „Wir sprechen mittlerweile eine Handvoll Sprachen, zum Beispiel Spanisch, Esperanto, Kurdisch, Türkisch, Französisch und Englisch.“
Bei der großen Eröffnungsfeier am 7. März 1999 seien mehrere Tausend Leute da gewesen, weiß Gebauer aus Erzählungen: „Das war ein echtes Highlight, und das Interesse war groß.“ Er selbst fing etwa ein halbes Jahr später als Zweigstellenleiter an und kann sich noch gut an seinen ersten Tag erinnern: „Ich war beeindruckt von der Architektur.“ Ein Konzept für das Haus war noch nicht da. Nur so viel wurde Gebauer mit auf den Weg gegeben: „Machen Sie was draus, seien Sie für den Stadtteil da!“ Die Bibliothek sei dann sofort in die Arbeit mit den Schulen eingestiegen, erzählt Gebauer: „Wir haben Kontakt zu den Schulleitungen aufgenommen. Im ersten Jahr hatten wir hier acht Klassenbesuche, im Folgejahr dann 150.“
Dass mit dem Ankauf der Immobilien nun der Standort als Kultureinrichtung und bedeutende Anlaufstelle für die Menschen im Stadtteil erhalten bleibt, freut Gebauer. „Für uns ist es wichtig, dass wir hier Planungssicherheit haben“, sagt der Zweigstellenleiter, demzufolge zwischenzeitlich bereits nach neuen Standorten gesucht wurde. Er ist überzeugt: „Die Aufgabenstellung, die wir haben, können wir hier am besten wahrnehmen.“