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Selbsthilfegruppe Wenn das Sehvermögen nachlässt

Die Herausforderungen einer Sehbehinderung und damit verbundenen Aufgaben bewältigt Sanatha Hannig von klein auf. Wie die Bremerin andere Betroffene unterstützt.
03.01.2023, 05:00 Uhr
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Wenn das Sehvermögen nachlässt
Von Ulrike Troue

Mit dem gelben Button mit drei schwarzen Punkten, der Armbinde oder einem Blindenstock "hast Du einen Stempel", sagt Sanatha Hannig. "Die Scham, zuzugeben, ich kann das nicht mehr sehen, ist groß", betont die Bremerin aus eigener Erfahrung. Sie habe sich selbst lange gegen einen Blindenstock gesträubt, 2009 schließlich doch Ja zu "Josefine" gesagt. "Eines der größten Traumata der Menschen ist, das Augenlicht zu verlieren, das muss psychisch aufgefangen werden", erklärt die Bremerin.

Sanatha Hannig ist von klein auf sehbehindert. Die Krankheit habe sich in Form von Schüben deutlich verstärkt. Heute bewältigt die Bremerin der Babyboomer-Generation ihren Alltag, ohne sehen zu können. Das gelingt der Atemtherapeutin zum Großteil noch ohne fremde Hilfe. Aber auch sie habe lernen müssen, in bestimmten Situationen andere Menschen um Hilfe zu bitten, um etwa die richtige Straßenbahn zu finden. Dafür benutzt sie auch die Klingel an ihrem zweiten Blindenstock. "Ich habe eine unheimliche Würde", betont sie. 

Die Herausforderungen einer Sehbehinderung und die damit zu bewältigenden Aufgaben befähigen sie nach eigener Aussage in besonderer Weise dazu, Menschen in Krisensituationen empathisch und zielorientiert zu begleiten. Damit auch sie so lange wie möglich ein selbstbestimmtes Leben führen können. Deshalb unterstützt Sanatha Hannig andere augenkranke Menschen – unter anderem seit 2017 durch ihr ehrenamtliches Engagement für das niedrigschwellige Projekt "Blickpunkt Auge" des Blinden- und Sehbehindertenvereins Bremen.

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Zu dem Projekt gehören eine Telefonsprechstunde und ein Gesprächskreis. Letztgenannten leitet die gelernte Masseurin und psychosomatische Körpertherapeutin, die für das Projekt extra ausgebildet wurde, an jedem dritten Donnerstag im Monat von 16.30 bis 18 Uhr in der Begegnungsstätte im Turm der Findorffer Martin-Luther-Gemeinde. Das Angebot richtet sich an Menschen, bei denen eine gravierende Augenerkrankung wie altersabhängige Makuladegeneration, Grüner Star oder eine Netzhauterkrankung aufgrund von Diabetes diagnostiziert wurde; die Betroffenen müssten sich zwangsläufig auf eine ganz neue Lebenssituation einstellen. "Die Gesprächsrunde war bis zur Pandemie gut besucht, zum Teil waren wir 16 Leute", sagt sie.

Es sei eine andere Welt, sagt die Bremerin. Sie selbst komme gut in Kontakt mit anderen Menschen, in ihrer Freizeit hilft sie unter anderem beim Dinner im Dunkeln im Café des Universums aus. "Ich möchte die Menschen dazu befähigen, sich nicht an den Sehverlust zu klammern, sondern ihre Ressourcen weiterzuentwickeln", betont Sanatha Hannig. Im Fokus stehe ein verändertes Bewusstsein für taktile Wahrnehmungen – für Empfindungen, die den Tastsinn betreffen – sowie das Hören.

Sanatha Hannig:
Der wichtigste Punkt ist, ehrlich zu sich zu sein und sich einzugestehen, ich kann nicht mehr richtig sehen.  

"Ich möchte von Sehverlust Betroffene darin unterstützen, dass sie von ihrer Abhängigkeit in eine Unabhängigkeit kommen, dafür braucht es auch eine Stabilität der Psyche", betont die Gruppenleiterin. "Ich musste mir meine innere Stabilität mühsam erarbeiten", erklärt Sanatha Hannig. Deshalb wolle sie sich nicht aus der sehenden Welt herausdrängen lassen, auf manche Menschen wirke sie damit womöglich etwas forsch und fordernd. Aber nicht sehen zu können, komme bei den meisten Sehenden einfach nicht an, erklärt die Bremerin, die eine der Tänzerinnen im Projekt "Spürbar unsichtbar" in der Schaulust war.

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"Der wichtigste Punkt ist, ehrlich zu sich zu sein und sich einzugestehen, ich kann nicht mehr richtig sehen und bin traurig", sagt Sanatha Hannig, die mehrere Augen-Operationen und einen steinigen Lebensweg hinter sich hat. "Ich komme aus einer Familie, in der das nicht gewollt war", sagt sie. Als Kind habe sie sich oft überfordert gefühlt und noch mehr angestrengt, weil sie alle Aufgaben genauso gut wie sehende Kinder erfüllen wollte und sollte. "Aber das hat mich letztlich dazu befähigt, später alles zu machen, was ich wollte", betont sie.

"Ich wollte Sozialarbeit studieren, um Menschen mit Sehverlust helfen zu können", sagt Sanatha Hannig. Doch ihr Augenarzt habe ihr davon abgeraten. In Mainz habe sie sich schließlich zur Masseurin ausbilden lassen, acht Jahre habe sie dort in dem Beruf gearbeitet. Schließlich habe sie die Atemtherapie kennengelernt und sich entsprechend weiterqualifiziert. Die Therapie bietet sie in ihrer Praxis "Atempause" in Gröpelingen an. "Ich habe irrsinnig viele Fortbildungen gemacht", sagt die Bremerin. "Das kann ich heute alles verwenden."

Durch ihre Biografie hat Sanatha Hannig, die 2001 nach Bremen kam, einen starken Willen und ein ebensolches Selbstbewusstsein entwickelt. Beides verhelfe ihr zu mehr Lebenslust und -freude. Sie ziehe sich nicht ein Schneckenhaus zurück, sondern suche gerne Orte auf, wo sie Freude habe. Als Beispiele nennt sie den Findorffmarkt oder den Unisee. "Das übt und ist spannend", sagt sie. Wenn sie Orientierungshilfe benötigt, spricht die Bremerin andere Menschen an. Ganz ohne Unterstützung gehe es eben nicht, betont Sanatha Hannig.

Info

Steckbrief

Verein/Projekt:

Blinden- und Sehbehinderten Verein Bremen / Hilfe bei Veranstaltungen, Begleitdienste oder Telefonsprechstunde

Engagementbereich:

Unterstützung bei der Organisation von Vereinsfesten und Veranstaltungen, Vorbereitung von Informationsmaterial für den Versand, einzelne Mitglieder begleiten, ihnen vorlesen oder mit ihnen etwas unternehmen. Unterstützung in der Telefonsprechstunde (24 40 16 16) für Betroffene jeden zweiten Donnerstag im Monat von 15 bis 18 Uhr

Zeitaufwand:

nach individueller Absprache

Ansprechpartnerin:

Marina Reicksmann

Telefon: 223 11 36

E-Mail: bremen@blickpunkt-auge.de

Internetadresse: www.bsvb.org

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