Medizinisches Cannabis wird zu häufig ohne nachgewiesenen Nutzen verschrieben – zu diesem Ergebnis kommt der Arzneimittelexperte Gerd Glaeske in einer Studie des Forschungszentrums Socium an der Universität Bremen. Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) dafür seien sprunghaft angestiegen – von 27 Millionen Euro in 2017 auf hochgerechnet 151 Millionen Euro in 2020. „Ein Zuwachs von mehr als 500 Prozent“, so Glaeske.
Seit dem 10. März 2017 ist Cannabis auf Rezept in Deutschland erhältlich: Schwerkranke Menschen könne danach Cannabis-basierte Mittel als Kassenleistung erhalten – der Antrag muss vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen genehmigt werden. Eine Indikationsliste gibt es nicht: Cannabis-Blüten, Extrakte, Rezepturen oder Fertigarzneimittel können demnach theoretisch für jedes Krankheitsbild verordnet werden. Wie das „Handelsblatt“ auf Basis von GKV-Zahlen berichtet, ist die Zahl der Verordnungen 2019 um 44 Prozent gestiegen, 2020 dürfte der Zuwachs demnach bei etwa rund 20 Prozent liegen. Insgesamt wurden der Zeitung zufolge in Deutschland 2020 mehr als 320.000 Verordnungen bewilligt.
Die Studie basiert auf Daten der Krankenkasse BKK Mobil Oil. "Lediglich ein Fünftel der Antragsteller erhielt danach Cannabis-basierte Arzneimittel im Rahmen gut geprüfter und zugelassener Anwendungsgebiete", kritisiert Glaeske. Dazu gehöre vor allem die spezialisierte ambulante Palliativversorgung von Krebspatienten und Anträge von Patienten mit neurologischen Leiden oder Appetitlosigkeit. Ein Großteil erhielt die Präparate außerhalb der in klinischen Studien geprüften Indikation: etwa aufgrund eines chronischen Schmerzsyndroms (27 Prozent), wegen anhaltender Rückenschmerzen (7), wegen Spastik (6) oder Polyneuropathie (5). Auffällig laut Glaeske: Unverarbeitete Cannabisblüten stehen mit 62 Prozent ganz oben auf der Verordnungsliste. Dies seien „archaisch anmutende Therapien in Zeiten der Verfügbarkeit von standardisiert hergestellten und im Markt verfügbaren zugelassenen Cannabis-Produkten und vor allem gut geprüften, wirksamen und vielfach erprobten Schmerzmitteln".
Vor allem männliche Patienten im Alter von 20 bis 29 Jahren gehörten zu den Antragstellern. Und: Die Tagesdosen würden mitunter um ein Vielfaches über denen des staatlichen Cannabis-Programms der Niederlande liegen. 51 Prozent der Anträge seien von Hausärzten gestellt worden. Glaeske fordert bessere gesetzliche Rahmenbedingungen zu Darreichungsformen, Dosierung und eine Nutzenbewertung: „Cannabis ist schließlich kein Wundermittel.“
Schmerzmediziner bemängelt fehlende Studien
Der Schmerzmediziner Hubertus Kayser, Chefarzt an der Paracelus-Klinik Bremen, bemängelt ebenfalls, dass es zu wenig klinische Studien für Anwendungsgebiete gibt. „Es gibt Hinweise, dass Cannabis-basierte Arzneimittelmittel bei bestimmten Indikationen und in bestimmten Situationen hilfreich sein können. Dazu gehören die Palliativversorgung, Spastiken bei Multipler Sklerose oder neuropathische Schmerzen.“ Bei chronischen Schmerzpatienten seien sie ein möglicher Baustein im Behandlungskonzept, aber nie Mittel der ersten Wahl und erst recht kein Allheilmittel. „Man soll Cannabis als Medizin nicht verteufeln, aber auch nicht hypen“, warnt er. „Das wäre ein falscher Fingerzeig für chronische Schmerzpatienten und würde falsche Hoffnung machen.“
Bei der AOK Bremen/Bremerhaven, der größten Krankenkasse im Bundesland, bewegt sich die Zahl der Cannabis-Verordnungen im zweistelligen Bereich: „In vier Jahren wurden insgesamt 75 Anträge genehmigt“, sagt Sprecher Jörn Hons. Beim Großteil der Anträge gehe es um chronische Schmerzen. Die Genehmigungsquote liege insgesamt bei knapp 60 Prozent, das entspreche etwa dem AOK-Bundesschnitt. „Das Gesetz hat in Bremen nicht zu einem explosionsartigen Anstieg geführt. Das ist auch ein Beleg dafür, dass da nicht ein riesiger Bedarf ist, für den es keine anderen Therapieoptionen“, betont Hons. „Es ist sinnvoll, dass es die Option gibt, aber es muss auch immer die Frage gestellt werden, ob das ärztlich begründet ist.“ Der Anteil von etwa 40 Prozent bei den Ablehnungen zeige, dass dies nicht immer der Fall sei.
John Koc hat seit der Freigabe etwa 40 Anträge für Cannabis auf Rezept gestellt. „Das Verfahren ist mitunter sehr aufwendig, auch weil viele Anträge zunächst abgelehnt werden“, sagt er. „Einige Fälle landen dann vor dem Sozialgericht. Für schwerkranke Patienten, bei denen Cannabis eine sehr gute Therapieoption sein kann, ist das eine sehr schwierige Situation.“ Auch der Facharzt für Psychiatrie wünscht sich grundsätzlich ein klares Vorgehen und eine bessere Studienlage. „Wichtig ist, dass sich Ärzte mit der erwünschten Wirkung und mit Nebenwirkungen von Cannabis-Arzneimitteln auskennen“, sagt Koc.
Mit dem Gesetz ist im März 2017 auch eine Begleiterhebung zur Verordnung von Cannabis auf Rezept gestartet, die Ergebnisse sollen vom Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte im kommenden Jahr vorgestellt werden.
Cannabis-Modellprojekt
Anfang Juni 2020 hat die Bürgerschaft einen Dringlichkeitsantrag von Rot-Grün-Rot beschlossen, danach sollte der Senat prüfen, ob ein Modellprojekt zur kontrollierten – nicht ärztlich indizierten – Abgabe von Cannabis an Erwachsene im Land Bremen möglich ist. Für ein solches Projekt muss unter anderem ein Antrag beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gestellt werden. „Aus dem Vorstoß ist bislang nichts geworden“, sagt der drogenpolitische Sprecher der Fraktion der Linken, Olaf Zimmer. Gemeinsam mit Thüringen hatte Bremen Anfang Juni zudem einen Entschließungsantrag in den Bundesrat eingebracht, wonach das Betäubungsmittelgesetz für die Einrichtung wissenschaftlich begleiteter Versuchsprojekte geändert werden soll. „Der Antrag ist von der Tagesordnung geflogen“, so Zimmer. „Wir werden das Thema weiter verfolgen, auch wenn jetzt mitten in der Corona-Pandemie zunächst nicht die Zeit dafür ist.“
Es war nicht der erste Versuch Bremens oder anderer Bundesländer, die Cannabis-Abgabe an Erwachsene im Zuge von Modellprojekten zu legalisieren. Im Sommer 2017 wollte Bremen – ebenfalls mit Thüringen – eine Bundesratsinitiative starten, auch dieser Vorstoß war erfolglos. Berlin war im März 2020 mit einem eigenen Antrag beim BfArM gescheitert.