Wenn die Sucht drängt, kann es vorkommen, dass die Abhängigen auf die Knie gehen. Wortwörtlich. Susanna Prepeliczay hat es beobachtet: Menschen, die mit den bloßen Fingern in den Ritzen zwischen den Gehwegplatten nach Drogen suchen. Prepeliczay, promovierte Sozialwissenschaftlerin, ist knapp zwei Jahre lang tief in die Bremer Drogenszene eingetaucht, hat mit Suchtkranken gesprochen, ihren Alltag dokumentiert. Auch andere Beteiligte hat sie ausführlich interviewt: Sozialarbeiterinnen und -arbeiter, die Polizei, Geschäftsleute, Bürgerinnen und Bürger. Es ist die erste wissenschaftliche Studie zur offenen Alkohol- und Drogenszene in Bremen.
Herausgekommen ist ein vielschichtiges Bild einer vor allem am Bremer Hauptbahnhof problematischen Situation. Dort treffen suchtkranke Menschen, die häufig zusätzlich unter psychischen Problemen leiden und wegen ihrer Sucht und ihrer Lebenssituation unter Dauerstress stehen, auf Sozialarbeitende, die Personalmangel und Unterfinanzierung beklagen. Polizeibeamte, deren Aufgabe es ist, den Bereich auch für Pendelnde, Touristen und Gewerbetreibende sicher und störungsfrei zu halten, zeigen Verständnis, kritisieren aber auch die ihrer Ansicht nach dort existierende "Infrastruktur der Sucht".
Viele der Menschen, die sich tagsüber an den Szenetreffpunkten aufhalten, hätten sehr bereitwillig mit ihr gesprochen, sagt Prepeliczay, viele hätten großen Redebedarf. Häufig seien die Menschen von Alltags- und Behördenangelegenheiten massiv überfordert. Schulden, der drohende Verlust der Wohnung, Haftstrafen: Je größer ihre Probleme seien, desto exzessiver sei der Drogenkonsum, um zu verdrängen.
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Für die meisten, hat Prepeliczay beobachtet, sind psychische Krankheiten eng mit dem Konsum verknüpft. Geschätzte 85 Prozent litten an posttraumatischen Belastungsstörungen, etwa die Hälfte an schweren Depressionen. Ein Betroffener schildert: "Wir sind alle suchtkrank. Wir haben uns das nicht ausgesucht. Jeder hat seine eigene Geschichte, da sind viele traumatisierte Leute dabei. Das sind auch gute Gründe für die Betäubung mit Drogen, Tabletten, um das zu verdrängen."
Gewalt, Stress und Misstrauen seien in der Szene alltägliche Begleiter. "Man muss ja auf alles, nicht nur auf die Polizei aufpassen, sondern auch aufpassen, dass derjenige, der neben dir sitzt, nicht auch noch das Portmonee klaut", erzählt ein Befragter. Hinzu komme die ständige Angst, mit Drogen erwischt zu werden. Prepeliczay schlägt deshalb vor, mehr geduldete Aufenthaltsorte, sogenannte Toleranzräume, mit Streetwork-Betreuung zu schaffen. Allerdings treffe dies in Bahnhofsnähe auf strukturelle Hindernisse.
Auch aus Sicht der Sozialarbeitenden wären das laut Studie eine sinnvolle Maßnahme. Menschen von den Szenetreffpunkten zu vertreiben, sei keine Lösung. Vielmehr sei "Junkie-Jogging" zu beobachten: Kurzzeitig werden die Leute aufgescheucht, kehren aber später zurück. Prepeliczay kritisiert die Unterfinanzierung der sozialen Angebote. Mit den vorhandenen Mitteln sei es schlichtweg nicht möglich, den ganzen Bahnhofsbereich ausreichend mit Streetwork-Angeboten abzudecken: "Es ist viel mehr Hilfebedarf da, als das System bieten kann."
Ein Problem ist den Sozialarbeitenden zufolge auch die Kriminalisierung und Strafverfolgung im Zusammenhang mit illegalen Drogen und Sucht. Geldstrafen könnten häufig nicht gezahlt werden. Wer länger als sechs Monate in Haft sitze, verliere meist seine Wohnung. Und: Werden Kleinstmengen an Drogen zum Eigenbedarf beschlagnahmt, müssten die Abhängigen aus Angst vor Entzugserscheinungen schnell Nachschub besorgen und das Geld dafür oftmals durch Diebstahl oder andere Beschaffungsdelikte auftreiben.
Auch die Polizei kenne diesen Teufelskreis, berichten Beamte in der Studie. Gerade erfahrene Einsatzkräfte hätten Verständnis für die Situation der Suchtkranken entwickelt, pflegten gute Kontakte und eine gewisse Nachsicht. Allerdings werde dieses Wissen nicht systematisch an jüngere Einsatzkräfte weitergegeben, was zu Unsicherheit und unnötigen Konflikten führe.
Wissenschaftlerin empfiehlt spezielle Angebote für Crack-Süchtige
Grundsätzlich beklagt die Polizei Personalmangel, der zu einem Anstieg von Problemen am Bremer Hauptbahnhof geführt habe. Die Szene sei jahrelang gut kontrolliert gewesen, bis die Präsenz vor Ort reduziert werden musste. Zur weiteren Verschlechterung habe das Auftauchen von Crack, einer rauchbaren Kokain-Variante, seit 2018 beigetragen. Dies sei die "Droge mit dem höchstmöglichen Gewaltpotenzial", der Rausch sei nur wenige Minuten kurz und erhöhe so den Druck, schnell Nachschub zu besorgen. Kritisch sehen die befragten Beamten zudem die aus ihrer Sicht am Bahnhof existierende "Infrastruktur der Sucht", die sich aus dem Straßenhandel mit Drogen und Möglichkeiten zur Beschaffungskriminalität einerseits und den Substitutionspraxen, Drogenberatungsstellen und Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe andererseits zusammensetze.
Als Ergebnis ihrer Studie hat Wissenschaftlerin Prepeliczay mehrere Handlungsempfehlungen formuliert. Eine davon, die Einrichtung eines Drogenkonsumraums, ist bereits umgesetzt worden. Andere, wie etwa spezielle Angebote für Crack-Abhängige oder Migrierte, die Möglichkeit, Drogen auf Verunreinigungen untersuchen zu lassen oder ein regelmäßiges wissenschaftliches Szene-Monitoring, stehen weiterhin nur auf dem Papier.