Neun Monate vor der Bürgerschaftswahl hat Bremens sozialdemokratischer Justizsenator in dieser Woche einen bemerkenswerten Vorstoß unternommen. Das sogenannte „Stadtticket extra“ für Bus und Bahn wird auf einen größeren Personenkreis ausgedehnt. Bisher profitierten 50 notorische Schwarzfahrer von diesem Angebot, künftig sollen es 70 sein.
Das „Stadtticket extra“ für 10,50 Euro wird einem Personenkreis offeriert, der immer wieder ohne Fahrschein in öffentlichen Verkehrsmitteln erwischt wurde, die daraufhin verhängten Geldstrafen nicht bezahlen konnte und deshalb immer wieder im Gefängnis landete. Bei diesen Menschen ergebe es „keinen Sinn, in eine Dauerschleife von Schwarzfahrern, Gefängnis und wieder Schwarzfahren zu verfallen“. So sieht es der Chef des Justizressorts, Martin Günthner.
Das Projekt „Stadtticket extra“ startete 2012 und ist nach Behördenangaben bundesweit einmalig. Bundesweit einmalig ist auch das Talent der Bremer SPD, ihre Stammwählerschaft vor den Kopf zu stoßen. Man stelle sich mal eine sozialdemokratisch orientierte Kleinrentnerin vor, die von ihren 900 Euro Altersbezügen die Hälfte für ihre Waller Zwei-Zimmer-Wohnung abgibt und mit dem Rest einen ganzen Monat klarkommen muss.
Dieser älteren Dame tun die 2,80 Euro für ein Einzelticket in die Innenstadt richtig weh, aber sie käme nicht im Traum auf die Idee, sich ohne Fahrschein in den Bus zu setzen. Und nun liest sie also morgens in der Zeitung, dass der SPD-Justizsenator den hartnäckigsten unter den Schwarzfahrern ein unschlagbar günstiges Angebot macht.
Wird sich Oma Walle bei der nächsten Bürgerschaftswahl noch mal aufraffen, 2,80 Euro für den Bus zum Wahllokal auszugeben, um dort ihr Kreuzchen bei der SPD zu machen? Auf diese Frage kommen viele heutige Parteifunktionäre nicht, dafür fehlt ihnen die Sensibilität. Sie haben sich weit von der Denke und der Erfahrungswelt derjenigen Menschen entfernt, für die sie da zu sein vorgeben.
Ihr Eifer gilt „spannenden Projekten“ wie etwa dem künftigen Kulturbunker an der Hans-Böckler-Straße. Im Mai hatte der Senat entschieden, das Gebäude am Rande der Überseestadt an den Verein Zucker e.V. zu verkaufen, der es in ein Kulturzentrum mit Techno-Disco verwandeln möchte. Ausschreibungsrechtlich ist dieser Verkauf heikel, auch drohen Klagen von Nachbarn.
Einsatz für Freiluftpartys
Die benachbarte Straßenverkehrsgenossenschaft hatte selbst Interesse am Kauf des Geländes angemeldet, sie hätte dort zusätzliche Jobs geschaffen. Für Sozialdemokraten alten Schlages wäre die Sache klar gewesen. Das Arbeitsplatzargument hätte bei ihnen stets den Ausschlag gegeben. Nicht so der heutige SPD-geführte Senat.
Er schmeißt sich lieber an die sogenannte „Kreativszene“ ran und bescheinigt den Aktivisten von Zucker e.V., „ein bedeutendes subkulturelles Netzwerk und in dieser Funktion auch ein wichtiger standortrelevanter Faktor“ zu sein. Diese Gewichtung werden bald auch die Waller Nachbarn zur Kenntnis nehmen müssen, wenn es in ihrem Quartier nachts etwas lauter zugeht.
Apropos laut: Glaubt bei der SPD jemand, dass ihr Einsatz für Freiluftpartys an der Wahlurne honoriert wird? In zwei Etappen hatte die Bürgerschaftsmehrheit in den vergangenen Jahren nicht-kommerzielle Musikveranstaltungen im Freien legalisiert. Spontanes Feiern mit laut aufgedrehten Boxen ist nun erlaubt, sofern bestimmte Bedingungen beachtet werden.
Ende 2017 hob das Parlament sogar die Deckelung der Teilnehmerzahl auf und lockerte weitere Auflagen. Die recht überschaubare „Kreativszene“ der Partymacher begrüßte das natürlich, sie hatte ja auch lange genug dafür geworben. Viele betroffene Anwohner von Freiluftpartyflächen dagegen fluchten, wie etwa während des „Irgendwo-Festivals“ in der Neustadt. Bei ihnen klirrten nachts die Gläser im Schrank. Wer wählt normalerweise SPD? Die hippen Jungs vom Partykollektiv oder die Airbus-Schlosser und Bäckerei-Fachverkäuferinnen in der Reihenhaussiedlung, die sich am Wochenende eigentlich vom Stress der Arbeitswoche erholen wollen?
Bei Letzteren verdichtet sich der Eindruck, dass die heutigen Funktionäre und Mandatsträger der SPD andere Sorgen haben als sie selbst. Wie weit die soziale und geistige Entfremdung vorangeschritten ist, lässt sich an den Wahlergebnissen ablesen. 2015 stürzte die einst mit satten strukturellen Mehrheiten ausgestattete Partei auf nur noch 32,8 Prozent ab, und für den Urnengang im Mai 2019 verheißen die Umfragen nichts Gutes.
Nicht einmal die allergrößten Optimisten in der Führungsriege erwarten ein Resultat oberhalb von 30 Prozent. „Hauptsache, wir werden stärker als die CDU“ lautet die Losung. Soll heißen: 27, vielleicht 28 Prozent. So schlimm muss es nicht kommen. Aber wenn der Abwärtstrend gestoppt werden soll, dann müssen Oma Walle, die Bäckerei-Fachverkäuferin und der Airbus-Schlosser wieder das Gefühl haben, dass die SPD ihr Anwalt ist und sich nicht um Minderheiten- und Lifestyle-Themen verdient machen möchte.