Klaus-Peter Hermes stoppt vor dem großen Monitor an der Wand. 35 Patienten zeigt das Display an. Einige von ihnen werden bereits in einem Untersuchungsraum behandelt. Die anderen sitzen im Wartebereich vor der Zentralen Notaufnahme im Klinikum Bremen-Mitte. Wie lange sie warten müssen – das kann Hermes nicht abschätzen. „Das kommt darauf an, wann ein Raum frei wird, ein Arzt Zeit hat und was in der Zwischenzeit an Notfällen hereinkommt“, sagt der Chef der Notaufnahme.
Es ist 14 Uhr an einem ganz normalen Wochentag. Rushhour in der Notaufnahme an Bremens größtem Krankenhaus. „Längst ist es nicht mehr so, dass sich die Patienten nur am Wochenende und nachts die Klinke in die Hand geben“, sagt der Notarzt. „Vor allem an Wochentagen zwischen 11 und 15 Uhr und dann wieder abends zwischen 17 und 21 Uhr brummt es hier. Mittags haben die niedergelassenen Ärzte geschlossen. Und abends, naja, da ist Feierabend.“ Nicht in der Notaufnahme. Sie ist rund um die Uhr geöffnet, und sie hält eine medizinische Infrastruktur bereit, die keine Arztpraxis in diesem Umfang zu bieten hat. Röntgen. Ultraschall. CT. Ärzte aus 16 Fachbereichen. Und die Garantie, dass in der Regel jeder Patient irgendwann an der Reihe ist. Auch, wenn sie oder er aus ärztlicher Sicht nicht wirklich ein Notfall ist.
„Im Schnitt durchlaufen 80 bis 100 Patienten die Notaufnahme täglich“, sagt Hermes. „Jeder Fünfte wäre auch gut bei einem Haus- oder Facharzt aufgehoben.“ An einem Wochenende, wenn das Klinikum Mitte mit dem augenärztlichen Notdienst an der Reihe ist, können noch einmal so viele Patienten oben drauf kommen. „Triage“ steht in dicken, schwarzen Buchstaben auf einer Glastür neben der Anmeldung. Durch diese Tür müssen alle Patienten, die in Eigenregie in die Notaufnahme kommen.
In dem Raum dahinter werden sie nach einer Ersteinschätzung eine von fünf Dringlichkeitsstufen zugeordnet: sofort, sehr dringend, dringend, normal und nicht dringend. Ihnen entsprechen die Farben Rot, Orange, Gelb, Grün und Blau auf den Monitoren. Grün und Blau bedeuten in der Regel eine längere Wartezeit. Je nach Betrieb bis zu vier Stunden oder auch länger. Betrieb herrscht immer. „Wir laufen voll“, sagt Klaus-Peter Hermes.
2002 ist die Zentrale Notaufnahme am Klinikum Mitte in Betrieb gegangen. Damals galt sie bundesweit als eine der modernsten. Auch wegen der Kapazitäten, die sie bewältigen konnte. „Damals waren das 22.000 Patienten im Jahr, heute sind wir bei bis zu 40.000. Jeder Dritte kommt aus Niedersachsen.“ Die neu geplante Notaufnahme anlässlich des Teilersatzneubaus soll in rund drei Jahren ans Netz gehen. Sie ist auf rund 75.000 Patienten im Jahr ausgelegt – weil die bisher eigenständigen Ambulanzen wie die Kinderklinik integriert werden. Gerechnet wird mit zusätzlich 25.000 Kinder-Notfällen im Jahr. Möglich, dass die Kapazitätsgrenze auch in der neuen Notaufnahme schnell wieder erreicht ist – wenn die aktuelle Entwicklung so weitergeht wie bisher.
Ungeduld im Wartebereich
Ein Symptom dieser Entwicklung: „Die Untersuchungsräume sind limitiert, sodass in der Rushhour Patientenbetten auch mal auf dem Gang geparkt werden müssen.“ Gehe es um einen verstauchten Knöchel, könne der Arzt auch mal einen Blick im Gang darauf werfen. Anders sehe es bei Patienten aus, die sich für die Untersuchung ausziehen müssen. „Auch wenn also ein Arzt frei wäre, hilft das manchmal nichts, wenn es keinen Untersuchungsraum gibt“, erklärt Hermes.
Diese Not bekommen Pflegekräfte und Ärzte nicht selten in Form von Beschimpfungen aus dem Wartebereich zu spüren. „Sie sehen, wie andere Patienten, die nach ihnen gekommen sind, zu einem Arzt können. Das hat dann etwas mit den Dringlichkeitsstufen zu tun, und das versuchen wir auch zu erklären“, sagt Hermes. Mal mit mehr, häufig auch mit weniger Erfolg. „Ich verstehe die Ungeduld ja irgendwie auch, weil die Menschen im Wartebereich sehr viel von dem, was in der Notaufnahme passiert, nicht mitbekommen.“
Das sind zum Beispiel Rettungswagen und Rettungshubschrauber, die Schwerverletzte bringen. Das Klinikum Mitte ist als überregionales Traumazentrum zertifiziert: „Es ist das Kernzentrum für Norddeutschland bei der Versorgung von Schwerverletzten. 2009 lag die Zahl dieser Traumapatienten bei 87 im Jahr, heute sind es 469, die als erstes in die Notaufnahme gebracht werden“, betont Hermes. Wird ein Schwerverletzter gebracht, bindet das sofort sämtliche Kapazitäten. Ärzte und Pflegekräfte. Geräte und Räume.
Die Schockräume, in denen diese Patienten behandelt werden, sind auf modernstem Stand ausgerüstet. „Das sind Notfälle, bei denen es um Leben und Tod geht. Und da muss alles andere warten.“ Das gleiche gelte für Patienten mit Herzinfarkt und Schlaganfall, auch diese Zahl habe über die Jahre zugenommen: Wurden vor zehn Jahren noch 1000 Schlaganfall-Patienten eingeliefert, seien es heute 5900 Patienten mit Verdacht auf einen Schlaganfall.
Bundesweit haben die Notaufnahmen mit dieser Gemengelage zu kämpfen. Aus Hermes‘ Sicht wäre es zu einfach, allein den sogenannten Bagatellpatienten die Schuld in die Schuhe zu schieben. „Natürlich haben wir jetzt im Sommer hier auch Patienten mit Mückenstichen sitzen, die ungeduldig werden, wenn sie nicht dran kommen“, sagt er. „Aber allen Patienten eine Gebühr dafür abzuknöpfen, wenn sie in die Notaufnahme kommen, statt zum Ärztlichen Bereitschaftsdienst der Kassenärztlichen Vereinigung zu gehen, wird das Problem nicht lösen und die Falschen treffen.“ Der Ärztliche Bereitschaftsdienst sei zudem nur an Wochenenden, Feiertagen und nach Praxisschluss geöffnet, „das hilft uns nicht während unserer Rushhour am Tag“, betont Hermes. Dazu komme, dass Patienten von dort oft auch zur Notaufnahme geschickt würden, etwa wenn geröntgt werden müsse.
„Das ambulante Notfallsystem muss grundsätzlich verändert werden“, fordert Hermes. „Es wird immer wichtiger. Viele Menschen haben keinen Hausarzt mehr und oft auch einfach keine Lust, auf einen Termin zu warten. Ob uns das gefällt oder nicht, wir werden diese Entwicklung wohl nicht stoppen können, wir können die Patienten aber steuern.“ Etwa, indem der Ärztliche Bereitschaftsdienst rund um die Uhr geöffnet sei – und die Grenzen von ambulant und stationär aufgehoben würden. „Das wäre eine Entlastung für beide Seiten“, ist Hermes überzeugt.