Das eigene Wohnumfeld ist für jeden ein Stück Heimat, doch auf den allermeisten Orten Deutschlands lastet braune Vergangenheit. Die Zeit der Nazi-Diktatur ist jedoch oft nicht mehr unmittelbar sichtbar oder nur noch in Spuren. An das Geschehen lässt sich erinnern, auch wenn darüber buchstäblich Gras gewachsen ist oder längst neue Gebäude dort stehen, wo einst Arbeitslager oder andere Orte des Verbrechens waren. Die Initiative „Denkorte Neustadt“ will an die Zeit von 1933 bis 1945 erinnern und hat dazu im Stadtteil Spuren ausfindig gemacht, markiert und mit Gedenktafeln erläutert.
Die Broschüre „Spurensuche“ zeigt an zwölf Denkorten zwischen Huckelriede und Leibnizplatz die vielen Facetten der NS-Zeit: Wie politischer Widerstand zerschlagen wurde, wie der Terror sich nicht nur gegen jüdische Menschen, sondern zum Beispiel auch gegen die Zeugen Jehovas richtete, wie die Nazis die Bevölkerung auf den Krieg einstimmten, der schließlich ins eigene Land kam.
„Unsere Initiative hat ihre Keimzelle bei der Freiwilligen Feuerwehr Bremen-Neustadt“, sagt Horst Otto, Mitarbeiter der Initiative „Denkorte“, „denn an deren ehemaligem Standort befand sich einst das Außenlager 'Hindenburg-Kaserne' des KZ Neuengamme.“ An dieser Stelle wurde ein Denkmal gesetzt, doch fortan wurden dank der Initiative immer mehr Spuren der NS-Vergangenheit in der Neustadt ausfindig gemacht.
Gemeinsam mit der Freiwilligen Feuerwehr Neustadt, der Jugendbildungsstätte Lidice-Haus, der Wilhelm-Kaisen-Oberschule, dem Verein für Innere Mission, dem Win-Forum Huckelriede, dem Beirat und engagierten Bürgern entstanden nach und nach einige Denkorte in Form von Stelen und Tafeln. „Besonders der Beirat Neustadt und der Bremer Senat haben uns finanziell unterstützt“, sagt Horst Otto, „deshalb kann in Kürze druckfrisch eine ausführliche Broschüre präsentiert werden, die das Wissen zu den Denkorten weiter vertieft.“
Die Orte der Erinnerung sollen exemplarisch für das stehen, was in der Zeit der NS-Diktatur geschah, wie zum Beispiel den Einsatz von Kriegsgefangenen als Zwangsarbeiter. „Denn Millionen deutscher Männer waren im Zweiten Weltkrieg an der Front. Für Arbeiten in der Landwirtschaft, im Handwerk und in der Industrie fehlten Leute, und so setzte man Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter ein, wobei die NSDAP eng mit den beteiligten Betrieben kooperierte“, sagt Horst Otto.
Eines der Lager, in denen sie untergebracht wurden, war die Schule in der Kantstraße, in der Menschen ab 1941 während des laufenden Schulbetriebs kaserniert waren, um Bunker zu bauen. Insgesamt habe es bei der Hindenburg-Kaserne und in deren Umfeld mindestens zehn Lager gegeben, von denen leider viele Spuren inzwischen verwischt seien. Die Initiative "Denkorte" hofft allerdings, dass ab Herbst in Kooperation mit einem Forschungsprojekt an der Universität Bremen eine Bestandsaufnahme der einstigen Lager erstellt werden kann.
Die geführte „Spurensuche“ mit der Broschüre in der Hand beginnt in der Nähe des Zentaurenbrunnens am Leibnizplatz. Dort erinnert eine Gedenktafel an die Deportation von etwa 400 jüdischen Bürgern im Jahre 1941 nach Minsk in Weißrussland, „Im nahe gelegenen Wald gab es ein Vernichtungslager, in dem die Menschen nicht länger als zwei bis drei Tage überlebten, bis sie in Massen erschossen wurden“, sagt Horst Otto.
Nur wenige Schritte von dem Ort, an dem sich die zur Deportation bestimmten Juden sammelten, fanden Bremer Bürger Schutz in einem Erdbunker, als Bomben auf die Stadt fielen. „Damals wurde schnell eine große Grube ausgehoben und eine Betonplatte darüber gesetzt. Denn die Nazis waren nicht darauf vorbereitet, dass der in anderen Ländern entfesselte Krieg ins eigene Land zurückkommen würde“, sagt Horst Otto. 173 Bombenangriffe musste Bremen im Zweiten Weltkrieg über sich ergehen lassen, „denn in der Stadt gab es bedeutende Rüstungsproduktion und Werften, und gegen Ende des Krieges wurden besonders auch Wohngebiete bombardiert.“ Doch als im Jahre 1943 eine Luftmine der Alliierten auf den Erdbunker fiel, erstickten darin 66 Menschen. Heute erinnert eine gepflanzte Birke an diese Stelle.
Auf dem Friedhof Buntentor führt der Weg zum Grab von Gustav Schade, der in der „Legion Condor“ Einsätze für die Franco-Truppen im Spanischen Bürgerkrieg von 1936 bis 1939 flog. Denn Hitler-Deutschland unterstützte auch militärisch die Faschisten in Spanien. Ein von Lorbeeren umwundener Stahlhelm liegt auf dem Sandsteingrab. „Die Inschrift 'Du starbst als Held, tapfer und treu bis in den Tod' mutet wie Hohn an“, kommentiert Horst Otto, „sie soll suggerieren, dass Schade für eine gute Sache gestorben sei.“
Im Buntentorsteinweg steht das „Rote Haus“ im Erdgeschoss leer, doch in den oberen Geschossen ist es heute noch bewohnt. Die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) erwarb 1924 das Grundstück, richtete hier die Zentrale für den Bezirk Nord-West ein und druckte ihre „Arbeiterzeitung“, bis das Haus 1935 von der SA besetzt und zur Folterstätte für Antifaschisten wurde.
„Nur durch Zufall fanden wir ein Foto vom Roten Haus, wie es damals ausgesehen hat und an dem noch die Rote Fahne hängt, wir konnten es in die Gedenktafel einfügen“, sagt Horst Otto. Von hier aus wurden auch die zwei Mörder entsandt, die in der Pogromnacht 1938 ganz in der Nähe den jüdischen Mitbürger Heinrich Rosenblum zur Strecke brachten.
„Es ist erstaunlich, wie viele Dokumente zur Naziherrschaft nach dem Zweiten Weltkrieg vernichtet wurden, zum Beispiel auch im Bremer Staatsarchiv oder bei der Polizei – unsere Spurensuche ist mühsam, und allmählich verlieren sich viele Spuren, weil die meisten Zeitzeugen inzwischen gestorben sind.“
Nur wenige Neustädter erinnerten sich noch daran, dass es Am Dammacker ein „Russenlager“ mit 17 Baracken für 1500 Menschen gab, in dem Sowjetbürger untergebracht waren, die für Luftschutzarbeiten eingesetzt wurden. „Die Verbrechen an der russischen Bevölkerung – 27 Millionen Sowjetbürger starben als Opfer des deutschen Krieges 1941 bis 1945 – werden gegenüber denen an den Juden häufig ausgeblendet“, sagt Horst Otto. Ein anderes "Russenlager" bestand an der Duckwitzstraße. Dazu sind Bemühungen im Gange, künftig mit einer Gedenkstele daran zu erinnern (wir berichteten). Die Beiräte Neustadt und Huchting haben inzwischen Unterstützung – auch finanziell – zugesagt. Mitte August soll es eine weitere Besprechung aller Beteiligten geben. Die Initiative „Denkorte“ will sich nicht darauf beschränken, in die Vergangenheit zurückzublicken: „Zur Erinnerungskultur gehört auch, Schlussfolgerungen zu ziehen, die für die Gegenwart gelten“, sagt Horst Otto, „und das bedeutet nicht nur, Andersdenkende zu tolerieren, sondern auch, dass Staaten heute nicht andere militärisch provozieren sollten.“
Weitere Informationen
Unter www.spurensuche-bremen.de lassen sich die Geschehnisse in der Zeit des Nationalsozialismus 1933 bis 1945 anhand zahlreicher markierter Standorte in ganz Bremen verfolgen. Auf dieser Internetseite gibt es auch eine kostenlose App, mit der man sich mit dem Handy auf Spurensuche begeben kann.