Es ist keine gute Nacht. Die ältere Dame fühlt sich unwohl, sie ist unruhiger als sonst. Sie weiß, sie braucht Hilfe. Doch ihre schlechte Verfassung hat sie bereits Stunden vor dem Gang zu Bett oft nach dem Pflegepersonal klingeln lassen. Niemand mag das hier, und sie weiß das. Zittrig drückt die Frau wieder auf den Knopf. Die Tür fliegt auf, die Pflegekraft betritt den Raum und herrscht sie an: „Was ist jetzt schon wieder? Warum klingeln Sie so oft? Kann doch nicht angehen, wir sind hier kein Luxushotel“, raunt die zur Hilfe Gerufene und lässt die Tür krachend ins Schloss fallen.
Erlebnisse wie dieses erdachte, sind ein Beispiel von Gewalt gegenüber Menschen in Pflegeheimen. Keine körperliche oder verbale, die sich sofort zu erkennen gibt und doch können die psychischen Folgen einer solchen Behandlung drastisch sein.
„So etwas gibt es bei uns nicht und das soll so bleiben“, stellt Tatjana Domke, Einrichtungsleitung des Hansa Seniorenzentrums in der Neustadt, klar. Deshalb habe man in der Unternehmensgruppe eine Schulungsreihe etabliert, in der das Pflegepersonal für dieses Thema sensibilisiert werden soll. „Es muss verstanden werden, welche Formen der Gewalt es gibt“, betont die Chefin die Notwendigkeit.
So werden laut dem Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) – eine gemeinnützige, operative Stiftung – folgende Arten von Gewalt unterschieden: Schmerzen zufügen, vernachlässigen, die Freiheit einschränken, bevormunden und sich respektlos verhalten. Alle können für die davon Betroffenen langfristige Folgen nach sich ziehen. Als Bewohner einer Pflegeeinrichtung befinden sie sich in einer abhängigen Situation.
„Die Tochter einer unserer Bewohnerin erzählte mir beim Einzug, dass ihre Mutter im vorherigen Pflegeheim immerzu Angst hatte, zu klingeln“, erinnert sie sich noch gut. „Diese mussten wir der Mutter erst mal nehmen. Das ist schrecklich und darf eigentlich überhaupt nicht nötig sein.“ Und doch passiert es immer wieder. Denn Gewalt beginnt eben nicht mit einem Schlag oder einer Beleidigung, sondern wird oft als solche von denen, die sie ausüben, überhaupt nicht als solche wahrgenommen. „Die Schulung diente vor allem dazu, damit Mitarbeiter Gewaltformen bei sich selbst und anderen rechtzeitig erkennen“, sagt Domke.
Dass das Ganze ein Problem ist, zeigt eine Umfrage des ZQP aus dem Jahr 2017 unter 250 Pflegedienstleitungen und Qualitätsbeauftragten. Heraus kam nämlich, dass bei 80 Prozent zumindest manchmal verbale Aggressivität im Alltag vorkommen. Vernachlässigung ist zwar nur bei grob 20 Prozent oft ein Problem, aber bei etwa 60 Prozent gelegentlich.
Freiheitsentzug spielt eine kleinere Rolle, aber es kommt bei gut zehn Prozent der Befragten wenigstens ab und an mal vor. Wobei körperliche Gewalt in fast jeder zweiten Einrichtung sogar gelegentlich angewandt wird. Auch die Familie muss kein sicheres Umfeld sein. In einer weiteren Umfrage des ZQP gestanden 400 von 1000 befragten pflegenden Angehörigen ein, in den vergangenen sechs Monaten mindestens einmal absichtlich ein Verhalten gezeigt zu haben, das als Gewalt bezeichnet werden kann. Wobei die psychische Formen von Gewalt mit 32 Prozent in den Angaben deutlich dominiert.
„Pflege ist anstrengend, jeder ist mal gestresst“, äußert sich Tatjana Domke verständnisvoll. „Aber das darf nicht gezeigt werden.“ Denn auch wenn es zwar stimme, dass man halt nicht immer Zeit habe, um jeden Wunsch sofort zu erfüllen, sei auch eine pauschale „ich-hab-keine-Zeit-Einstellung“ gefährlich. „Denn wer definiert denn für den zu Pflegenden, der auf Klo muss, was gleich oder sofort heißt“, nennt sie handfeste Beispiele, die zuerst harmlos klingen, aber aus vielerlei Sicht unangenehm für die Betroffenen sein können. „Wir müssen hinschauen und verhindern, dass Gewalt jedweder Form angewendet wird“, zeigt Tatjana Domke sich entschlossen. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass ein offener Umgang mit der Thematik, sachliche Aufklärung und kontinuierliche Schulungen zu den wichtigsten Präventionsmaßnahmen gehören“, sagt die Einrichtungsleiterin.