Irgendwo in einem Wohngebiet. Der Ort darf nicht genannt werden. Zum Schutz der Kinder. Kinder, die in einer Notsituation im Geschwisterhaus des SOS-Kinderdorfs eine Zuflucht finden.
Die Unterkunft ist ein Schutzraum für junge Menschen vor psychischer und physischer Gewalt und schwer zu finden. Das Viertel ist gepflegt. Hier ist die Welt geordnet, bezeugen die Vorgärten in der Straße. Unkrautfreie Rasenflächen sind gemäht, Natursteinmauern begrenzen akkurate Blumenbeete. Am Ende eines Wendekreises führt ein Stichweg zu drei Bungalows. Gummistiefel hängen am Zaun. Sie ersetzen ein Hinweisschild. Die richtige Adresse bestätigt ein kleines Klingelschild an der Haustür. Davor liegt eine Fußmatte in Regenbogenoptik. Der Regenbogen, Symbol für Aufbruch, Veränderung und Frieden.
„Ist das Anne?“, ruft plötzlich ein Kind aus einem Siebensitzer an der Straße. „Nein, schnall dich schön an. Es geht los“, lautet die freundliche, aber hastige Antwort. Motorengeräusch, weg ist der Kindertransport zum Ausflug in die Botanika. Das 360 Quadratmeter große Geschwisterhaus bleibt an diesem Vormittag leer. „Die Kinder haben in letzter Zeit zu viele neue Gesichter gesehen, sind weg von ihren Familien und sehnen sich nach Bezugspersonen“, erklärt Lars Becker, Einrichtungsleiter des SOS-Kinderdorfs den Ausflug an diesem Vormittag. Er führt aus: „Für sie ist es eine Ausnahmesituation. An oberster Stelle steht der Schutz ihrer Privatsphäre.“ Fotos der Bewohner sind Tabu.
Kinder und Jugendliche im Alter von zwei bis 17 Jahren werden hier aufgenommen, weil sie in problematischen Familienkonstellationen leben. Einige bleiben nur wenige Tage, durchschnittlich drei Monate, in Ausnahmefällen bis zu zwölf Monaten und länger. Viele kommen mit massiv traumatischen Erfahrungen und müssen sich nun in einer Gruppe mit neun weiteren Mitbewohnern zurechtfinden. Umgeben von einem 28-köpfigen Team, zum Teil im Schichtdienst, inmitten von Betreuern, Erziehern, Pflegern, einer Psychologin und Haushaltshilfen, sorgen Ab- und Neuzugänge außerdem für ein Kommen und Gehen. „Ein weiteres Gesicht brauchen sie nicht“, bekräftigt Bereichsleiter Marko Meisel.
SOS-Kinderdorf Bremen besteht seit 25 Jahren
Während das SOS-Kinderdorf Bremen gerade sein 25-jähriges Bestehen gefeiert hat, wurde diese Nebenstelle am Stadtrand 2020 eröffnet. Seither haben sich hier insgesamt 120 Kinder die Klinke in die Hand gegeben. 70 Prozent der Kinder sind unter sechs Jahren. Zieht ein Bewohner aus, kommt sofort der nächste. Hunderte von Anfragen können nicht bedient werden. Akutfälle gibt es viele. Steht etwa eine Entbindung im Frauenhaus an, so muss das Geschwisterkind unterkommen.
„Oder das Geschwisterpaar neulich. Das war auch ein Notfall“, möchte Psychologin Johanna Schneider ergänzen und hält dann kurz inne, ob der Fall irgendwie Rückschlüsse auf die Identität der beiden Jungen im Grundschulalter zulässt. Lässt er nicht. Zu häufig kommen derartige Misshandlungen vor. Die Jungs wurden von ihren Eltern mit der Bratpfanne und dem Gürtel geschlagen. Eine Lehrkraft in der Schule, der sich die Kinder anvertrauten, half ihnen. Der Rest ist eingespielte Normalität. Das Jugendamt wird auf den Plan gerufen. Es fallen Begriffe wie Schutzrecht der Kinder, Kindeswohl, Bemühen um Fürsorge und Anwaltschaft. Das, was im BGB per Grundgesetz so eindeutig festgelegt ist, gestaltet sich in der Umsetzung nicht immer problemlos. „Wir liefern hier einen täglichen Spagat“, beschreibt Meisel die Arbeit der Mitarbeiter. „Fürsorge, aber keine Bindung. Pflege, aber keine Erziehung“, das sei nicht immer leicht. Das Band von Nähe und Distanz hat Dauerspannung. „Wir bringen den Kindern nicht das Radfahren, Lesen und Sprechen bei. Ein Zweijähriges Kind muss aber auch mal auf den Arm genommen werden.“ Fragen zur häuslichen Situation werden beantwortet, aber nicht ausgeführt. „Mama und Papa brauchen jetzt Zeit“, muss reichen.
Personal der Wohngruppe wechselt häufig
Eine wöchentliche Fachberatung der Mitarbeiter sei nötig, um der Belastung standzuhalten, sagt Becker. Und dennoch gebe es aufgrund der hohen Belastung einen häufigeren Personalwechsel als in der Wohngruppe.
Doch Neutralität gegenüber dem Jugendamt und den Eltern steht an oberster Stelle. „Wir sind hier die Schweiz“, bringt es Meisel auf den Punkt. Aussagen von Gewalt werden dokumentiert, gezielte Fragen vermieden. Denn 40 Prozent der Kinder gehen wieder zurück in ihre Familien, 60 Prozent kommen in Wohngruppen, Pflegefamilien oder Angeboten vom SOS-Kinderdorf unter. Durch die professionelle Distanz bleiben Wege in alle Richtungen geebnet.
Ein Blick in den Wohntrakt erklärt, was der Bereichsleiter mit Neutralität meint. Die Zweibettzimmer sind spärlich eingerichtet. Betten, Tisch, Schrank. Kein Bild an der Wand. Kein buntes Kissen oder Stofftier. „Wir wollen keine große Rolle in der Biografie der Kinder spielen oder starke Erinnerungen hervorrufen“, sagt Meisel. Das Kind nehme sonst Schaden. Zum Abschied bekommt das Kind einen Brief mit Fotos vom Haus. Es soll keine Leerstelle in der Biografie entstehen.
Zusammen mit Schneider hat er kürzlich beim Jugendamtsleiter vorgesprochen, weil ein Kind länger als vorgesehen in der Einrichtung gelebt hat. Die Psychologin ergänzt: „Die meisten Kinder kommen mit Entwicklungsdefiziten. Psychotherapie, Logopädie, Kindergarten, all das ist hier nicht gegeben.“ Die sprachliche und motorische Entwicklung wird nicht aufgehalten, aber auch nicht gefördert. Ein Bewegungsraum, ausgelegt mit gelben Matten und ausgestattet mit einem Klettergerüst, bietet Möglichkeiten, körperlich aktiv zu werden. Gespendete Fahrräder, Bobbycars und Dreiräder stehen im Hof zur Verfügung. Das Angebot ist weder lieblos noch liebevoll.
Kinder in schlechtem Gesundheitszustand
Die Grundversorgung steht im Vordergrund. Selten kommen die Kinder in einem guten Gesundheitszustand an. Viele sind hungrig bei der Ankunft. Sie müssen gebadet, teils gewickelt und versorgt werden. Waschmaschinen und Trockner sind im Dauereinsatz. Gesamtleiter Becker öffnet den großen Wandschrank im Flur. Bunte Pyjamas in verschiedenen Größen, verwaschene Strumpfhosen und mehr. Spenden aus dem Stadtteil- und Familienzentrum des SOS-Kinderdorfs und von Werder Bremen.
Zurück geht es über die große Wohnküche, den Spielflur mit einem von Kinderhänden bemalten Bild, das alle paar Wochen neu gestaltet wird. Nach der herzlichen Verabschiedung geht die Tür zu. Sie fällt ins Schloss hinter dem Regenbogen am Boden.