So manch ein Himmelsbeobachter zwischen Bremen und Bremerhaven dürfte nicht schlecht gestaunt haben an diesem 20. August 1929. Flog doch ein Doppeldecker immerzu hin und her zwischen den beiden Schwesterstädten, insgesamt 13 Mal legte die Maschine die Strecke zurück. Des Rätsels Lösung: Der Bremer Pilot Cornelius Edzard und sein Begleiter Max Middendorf wollten einen neuen Weltrekord in „geschlossener Bahn“ aufstellen. Bis dahin wurde die Bestzeit für sogenannte Leichtzweisitzer von zwei Tschechen gehalten. Ein gutes Jahr zuvor hatten sie mit einem Eindecker nonstop 1500 Kilometer zurückgelegt.
Früh am Morgen starteten die beiden Flieger vom Neuenlander Feld. Um 5.56 Uhr hob ihre Maschine ab, eine Fw S 24 b „Kiebitz“ der Focke-Wulf-Flugzeug AG. Ausgestattet war die Kiebitz – alle Focke-Wulf-Maschinen trugen Vogelnamen – mit einem 70 PS starken Motor sowie zwei Zusatztanks beiderseits des Flugzeugrumpfs. Ziel war der Flugplatz Bremerhaven, von dort aus ging es wieder zurück zum Flugplatz Bremen und das gleiche Spiel begann von vorn. Zwischen den beiden Wendemarken legten Edzard und Middendorf bis zum Abend insgesamt 1601 Kilometer zurück. Um 19.27 Uhr war es dann endlich geschafft: Nach 13 Stunden und 31 Minuten hatten die beiden Piloten den alten Weltrekord geknackt.
Doch wozu überhaupt der Rekordflug? Anders als man meinen könnte, wurden die beiden Männer nicht von reiner Abenteuerlust angetrieben. Das eingängige Bild von den tollkühnen Flugpionieren ist nur ein Teil der Wahrheit. Die ganze Wahrheit hat auch ihre profane Seite. Und die hat zu tun mit der Vermarktung eines neuen Fliegers. „Die Kiebitz sollte der zweite große Wurf von Focke-Wulf werden“, sagt Luftfahrthistoriker Jan-Bernd Uptmoor, der gerade an einer Biografie über Cornelius Edzard arbeitet.
Tatsächlich hatte die deutsche Flugzeugindustrie nach dem Ersten Weltkrieg schwer zu kämpfen. Der Versailler Vertrag von 1919 verbot den Bau von Militärflugzeugen, sogar für den motorisierten Flugzeugbau im zivilen Bereich gab es massive Einschränkungen. Die Folge: Plötzlich erfreute sich der Segelflug großer Beliebtheit. Erst 1926 erreichte Deutschland durch das Pariser Luftfahrtabkommen zumindest eine Aufhebung der zivilen Produktionsbeschränkungen.
Weltrekord soll Zuverlässigkeit beweisen
Kein Wunder, dass sich Hochstimmung breitmachte. In Bremen entwickelte sich mit der noch jungen Firma Focke-Wulf laut Uptmoor ein viel versprechender Industriezweig. Im Mai 1929 wurde das spätere Rekordflugzeug zugelassen. Da habe es nahegelegen, seine Zuverlässigkeit durch einen Weltrekord unter Beweis zu stellen und dadurch national wie auch international bekannt zu machen. Ein nüchternes Kalkül also, um das neue Modell weltweit zu vermarkten. „Der Rekordflug war auch eine Imagesache, eine Marketingstrategie. Den wirtschaftlichen Aspekt sollte man nicht unterschätzen.“
Als verwegenen Draufgänger auf der Jagd nach ständig neuen Rekordmarken darf man sich Edzard aber nicht vorstellen. Immerhin hatte der Vater zweier kleiner Töchter auch eine Familie zu ernähren. Das machte er nicht nur als Einflieger bei der Bremer Flugzeugbau AG. Zugleich beförderte er als Geschäftsführer der Bremer Luftverkehrs AG (später Norddeutsche Luftverkehrs AG) eigenhändig Passagiere nach Wangerooge. „Da hat er auch selbst die Koffer in die Maschine getragen“, sagt Uptmoor. Gleichwohl gibt es für Uptmoor keinen Zweifel an der fliegerischen Leidenschaft Edzards. „Diese Männer waren geradezu süchtig nach dem Fliegen“, sagt der 54-Jährige aus Oldenburg. Nachdem Charles Lindbergh im Mai 1927 als erster Pilot den Atlantik in west-östlicher Richtung allein überquert hatte, blieb als lohnendes Rekordziel nur noch der umgekehrte Weg. Und der galt wegen des Gegenwinds als schwierig, wenn nicht unmöglich.
Gerade das reizte Günther Freiherr von Hünefeld, den Pressechef des Norddeutschen Lloyd. Es gelang ihm, Edzard für das Vorhaben zu begeistern. Die Idee: Zwei Maschinen mit jeweils drei Mann an Bord sollten zusammen den Transatlantikflug wagen. In der einen sollte Hünefeld sitzen, in der anderen Edzard, damit bei Ausfall eines Flugzeuges auf jeden Fall ein Bremer sich rühmen könnte, nach Amerika gelangt zu sein. Zusammen mit dem Werkspiloten der Dessauer Junkers-Werke, Johann Risticz, legte sich Edzard mächtig ins Zeug. Im August 1927 stellten sie zwischen Dessau und Berlin mit einer Flugzeit von 52 Stunden und 22 Minuten einen neuen Dauerflugweltrekord auf. Doch der schöne Traum löste sich in Luft auf: Kurz nach dem erfolgreichen Testflug scheiterte der Versuch kläglich, den Atlantik erstmals in Ost-West-Richtung zu überqueren. Im Sturm mussten Edzard und Risticz kehrtmachen, ihre auf den Namen „Europa“ getaufte Junkers vom Typ W 33 wurde bei der Notlandung auf dem Bremer Flugplatz auch noch schwer beschädigt. Kaum besser erging es dem zweiten Team mit Hünefeld sowie den beiden Junkers-Piloten Hermann Köhl und Fritz Loose mit ihrer „Bremen“.
Erst im April 1928 glückte der Atlantikflug von Europa nach Amerika im zweiten Anlauf, zusammen mit dem irischen Piloten James C. Fitzmaurice avancierten Köhl und Hünefeld zu gefeierten Helden. Dass Edzard nicht mitwirkte, erklärt sich Uptmoor mit beruflichen Zwängen. Nach dem Unfalltod Georg Wulfs im September 1927 stieg er zum Chefpiloten bei Focke-Wulf auf, da wurde die Zeit knapp für langwierige Rekordversuche. „Ich denke schon, dass ihn der verpasste Atlantikflug geärgert hat“, sagt Uptmoor. Ein Indiz dafür: Als zur Feier der 25. Wiederkehr des Atlantikflugs 1953 Fitzmaurice nach Bremen kam, saß der verhinderte Atlantikbezwinger Edzard an seiner Seite, als es im Auto durch die Innenstadt ging – als Ersatz für die bereits verstorbenen Herren Köhl und Hünefeld.