Wenn sich plötzlich Schulkinder von sich aus bei der Polizei melden, weil sie Angst haben und keinen anderen Ausweg sehen, wird die Tragweite ihrer Seelennot deutlich: Zuhause erleben sie Gewalt und Vernachlässigung statt Liebe und Geborgenheit.
"Selbstmelder sind bei Kindern eher selten", sagt Ulrich Kenkel, Leiter des Hermann-Hildebrand-Hauses in Oberneuland. Die Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung ist auf die Inobhutnahme von Null- bis 14-Jährigen spezialisiert und hält dafür 30 Plätze vor. Im Lockdown, als die Schutzsysteme heruntergefahren waren, so Kenkel, habe es gleich mehrere Hilferufe aus dieser Altersgruppe gegeben.
Schulkinder suchen sich Hilfe
Im Gegensatz zu Klein- und Kindergartenkindern seien Schulkinder schon selbstständig und könnten übers Handy auf sich aufmerksam machen, erklärt Yvonne Busche. "Auch über die Schulsozialarbeiter." Sie verantwortet den Bereich Inobhutnahme im Hermann-Hildebrand-Haus, dessen Schulkind-Bereich derzeit voll ausgelastet ist.
Insgesamt ist die Zahl der Minderjährigen, die das Jugendamt wegen Kindeswohlgefährdung aus den Familien nehmen muss, nach Auskunft des Sozialressorts in der Pandemie nicht gestiegen. Ulrich Kenkel nennt konkrete Zahlen fürs Hermann-Hildebrand-Haus: "Unsere Auslastung lag vor Corona bei rund 85 Prozent, in 2021 bei nur 68 Prozent."
Es wäre ein Trugschluss, daraus ein sicheres Familienumfeld für Kinder und Jugendliche in Pandemiezeiten abzuleiten. Zumal etwaige Gefahrenpotenziale unentdeckt bleiben könnten – wegen Schul- und Kita-Schließungen und Kontaktbeschränkungen. Denn gleichzeitig sind die Herausforderungen für Kinder- und Jugendeinrichtungen größer geworden.
"Die Kinder kommen in einem derart desolaten Zustand, dass sie einen höheren Grad an Bedürftigkeiten, Auffälligkeiten und medizinischem Aufwand haben", stellt Ulrich Kenkel fest. Es gibt einen umfänglichen Eingangscheck im neuen Zuhause auf Zeit. Danach werden die Unterstützungsmöglichkeiten im medizinischen, heilpädagogischen und psychologischen Bereich eingeleitet.
Kleinkinder blasen Trübsal
"Das Aggressionspotenzial ist gewachsen, auch bei den Kleinen", berichtet Yvonne Busche. Der im Bereich der Drei- bis Sechsjährigen tätige Erzieher Patrick Koller präzisiert, dass die Kinder "emotional abflachen, ihr Trübsal offensichtlicher wird und sie plötzlich weinen, ohne den Grund sagen zu können". Humor bewahren und Lichtblicke aufzeigen hält er für wesentliche Faktoren der "Seelenhygiene".
Schon der Erstkontakt und darüber Zugang zu den Schutzbefohlenen zu bekommen, ist für Fachkräfte unter den erforderlichen Gesundheitsschutzmaßnahmen eine Herausforderung. Die Maske ist eine Erschwernis, weil schon Ein-bis Dreijährige Zuneigung vom Gesicht ablesen können.
"Wir lernen alle neue Kommunikation mit den Augen und der Stimme", schildert Bereichsleiterin Yvonne Busche. "Unsere pädagogische Arbeit beinhaltet auch Körperkontakt", spricht sie die für eine Stabilisierung der Kinder und Jugendlichen unverzichtbare Nähe an. Dafür bietet zum Beispiel das große Außengelände Freiräume. "Berührungen sind ganz wichtig", pflichtet ihr Sozialpädagoge Daniel Kloss bei, auch für seinen Einsatzbereich der Sechs- bis 14-Jährigen.
Bewährungsprobe für eingespieltes Team
"Es ist ein Balanceakt, jeden Tag aufs Neue abzuwägen, was jedes Kind gerade braucht", sagt Yvonne Busche. Aber das gelingt nach Patrick Kollers Einschätzung relativ gut. Die anfänglich besonders anstrengende Zeit ohne Schutzmaterial und Impfschutz, aber mit den gestiegenen Ängsten hätten sie gemeinsam gut bewerkstelligt: Die Gruppenbildung, Trennung der Räume und Laufwege wurde in zwei Corona-Konferenzen geregelt. Aus dem ersten und einzigen Corona-Ausbruch im November 2020 über zwei Wochen haben alle gelernt. Für die Bewältigung von Unwägbarkeiten haben sie kreative und pragmatische Routinen entwickelt.
Das betrifft unter anderem die Absprachen mit den Schulen oder Eltern. Für sie gab es vorher zwei Besuchstage pro Woche, derzeit nehmen sie ihr Umgangsrecht verstärkt durch Telefonate und Zoom-Konferenzen wahr.
Eins-zu-Eins-Betreuung
"Und jedes Kind hat viele Termine", stellt Kinderkrankenschwester Frauke Henschel im Vergleich zu früher fest. Häufigere Absprachen und Besuche bei Ärzten, Logopäden oder Psychotherapeuten sind auch für sie eine höhere Belastung. Längere Wartezeiten können ihr zufolge für in Obhut genommenen Kinder und Jugendlichen fatal sein. "Als es einem Kind gesundheitlich wirklich sehr schlecht ging, blieb nur die Notaufnahme eines Krankenhauses", berichtet sie. Die Situation habe Rund-um-die-Uhr-Betreuung verlangt.
Weil die Eltern des völlig unterernährten Kindes mit Bronchitis nicht da waren, sprang Anne Iltis ein. "Ich war vier Tage à 24 Stunden da", erzählt die Kinderkrankenschwester. Nur weil die Nachtschicht im Hermann-Hildebrand-Haus mit zwei Kräften besetzt ist, war sie überhaupt abkömmlich.
Hand in Hand
Dieses Beispiel ist bezeichnend für das Selbstverständnis des 120 Personen umfassenden Hausteams, das Hand in Hand arbeitet, damit es den Kindern in ihrem Zuhause auf Zeit so gut wie möglich geht – trotz und in der Corona-Krise. Diesen Eindruck jedenfalls hat Sozialsenatorin Anja Stahmann von ihrer Stippvisite mitgenommen, die Kinderschutz als "Königsdisziplin" ihres Ressorts betrachtet.
"Ich bin tief beeindruckt von dem, was hier geleistet wurde und wird", bekannte sie und wählte das Bild vom "sicheren Hafen", den Kinder und Jugendliche in absoluten Ausnahmesituationen anlaufen und der eine gesellschaftlich wichtige Aufgabe erfüllt.