Vor 30 Jahren hat Hartmut Kraft ein Fachbuch geschrieben. Der Titel: „Grenzgänger zwischen Kunst und Psychiatrie.“ Das Buch erschien eben in dritter, überarbeiteter Auflage im Deutschen Ärzte Verlag. 30 Jahre, das ist für ein Fachbuch eine beeindruckende Lebensdauer, und könnte daran liegen, dass das allgemeine Interesse am Thema gewachsen ist.
Der Psychiater und Psychoanalytiker Hartmut Kraft ist 64 Jahre alt. Er lebt heute in Köln als Psychoanalytiker, Kunstsammler, Ausstellungskurator und Autor. Das Thema hat ihn gepackt, als er Augustin Wilhelm Schnietz‘ Bilder von Kopffüßlern sah. Schnietz war Psychiatriepatient. Kopffüßler sind eine vereinfachte Darstellung von Menschen. Kopf und Körper sind eins. Kinder zeichnen in einem bestimmten Entwicklungsstadium Kopffüßler – so beginnt das Bild vom Menschen. In prähistorischen Darstellungen des Menschen und bei Naturvölkern findet man häufig Kopffüßler. Auch in der modernen und der zeitgenössischen Kunst wird das Motiv des Kopffüßlers ebenso eingesetzt wie in der "Art brut" oder eben in den Äußerungen von Patienten in der Psychiatrie oder Neurologie.
Hartmut Kraft schrieb 1982 sein erstes Buch über Kopffüßler, es erschien bei Hippokrates in Stuttgart. Wenn man „Kopffüßler“ googelt, erhält man vier Literaturhinweise. Drei davon gelten Büchern von Hartmut Kraft, einer nennt ein Standardwerk von 1922. Hans Prinzhorn spricht darin über die „Bildnerei der Geisteskranken“. Den Begriff „Kunst“ mochte er in dem Zusammenhang noch nicht benutzen. Kraft jedenfalls begann, Kunst zu sammeln und zwar nicht nur die Kunst von psychisch Kranken. Die Sammelei wuchs sich zu einer echten Leidenschaft aus. Er investiert große Teile seines Einkommens in Kunst. „Ein Sammler“, sagt Kraft, „ist ein reicher Mensch, der kein Geld hat.“
Aus seinem Buch „Grenzgänger zwischen Kunst und Psychiatrie“ las Hartmut Kraft in der Galerie im Park die Kapitel über Augustin Wilhelm Schnietz und Gustav Messmer. Kraft hat beide persönlich gekannt und Schnietz auch bis zu seinem Tode ärztlich betreut. In der Galerie im Park läuft noch bis zum 14. Oktober die Ausstellung „Outsider, Insider, Grenzgänger – Bilder, Skulpturen und Objekte aus der Sammlung Kraft“. Die Ausstellung zeigt auch Arbeiten von Schnietz, der die Kopffüßler inzwischen hinter sich gelassen hat, und von Messmer.
Den Arbeiten von Gustav Messmer stellt Hartmut Kraft Bilder von weltberühmten Künstlern wie Panamarenko gegenüber. Und wenn man die kleinen Info-Schilder an den Bildern entfernt, kann man kaum sagen, wer welche Arbeit geschaffen hat. Gustav Messmer (Jahrgang 1903), genannt „Der Ikarus vom Lautertal“, verbrachte einige Jahre im Kloster, bis ihm die Ablegung der heiligen Gelübde verweigert wurde. Er trat aus dem Kloster aus. Am 17. März 1929 ging Messmer an der Altshausener Dorfkirche vorbei, in der gerade eine Konfirmationsfeier stattfand. Er stürmte hinein und erklärte, dass dort nicht das Blut Christi ausgeteilt werde und sowieso alles ein Schwindel sei. Elf Tage nach dem Zwischenfall in der Kirche wurde er wegen religiöser Schwärmerei und Störung der öffentlichen Ordnung in die psychiatrische Heilanstalt Schussenried eingewiesen. Dort blieb er 35 lange Jahre.
Aber er entwickelte einen Traum, den er intensiv umzusetzen versuchte. Er wollte ein Flugfahrrad bauen, mit dem er die Mauern der Anstalt überwinden konnte. Also hat er entworfen und dargestellt und gebaut und Flugversuche gemacht. Das hat nie funktioniert, allein schon, weil das Material, das ihm zur Verfügung stand, viel zu schwer war. Er behauptete aber immer, mit einem seiner Modelle wäre er einmal ein paar Meter „gehoppst“. Und er hat weiter gearbeitet. Sein Traum hielt ihn aufrecht.
Gustav Messmer hinterlässt über 1000 Zeichnungen, Skizzen, Texte und Bilder, wie auch Objekte, Flugfahrräder, Schwingenfluggeräte, Musikinstrumente und Sprechmaschinen. Viele seiner Arbeiten können auf der Internetseite www.bawue-museum-digital.de angesehen werden. Er sagte einmal: „Wo die Schule versagt, geht das ganze Leben einen Nebenweg.“ Diesen Nebenweg hat er nie verlassen können.
Augustin Wilhelm Schnietz gilt laut Kraft als begabter Grenzgänger. Er erkrankte mit 17 Jahren erstmalig an einer paranoid-halluzinatorischen Form der Schizophrenie, die bis zu seinem Tode 1988 zu mehreren stationären Aufenthalten führte. Schnietz zeigt eine beachtliche künstlerische Begabung. Er arbeitete in den Zeiten zwischen seinen Erkrankungsschüben als Redakteur und Layouter bei Tageszeitungen, veröffentlichte Karikaturen und schrieb ein Hörspiel. Generell erweisen sich gut trainierte künstlerische Fähigkeiten oft als erstaunlich lange widerstandsfähig gegenüber der Erkrankung. Kraft schreibt: „Nach seiner frühzeitigen Berufsunfähigkeit konzentrierte er sich ganz auf das zeichnerische Werk. Es entstand ein eigenständiges Œuvre mit immer differenzierter Gestaltung. In seiner Identität als Künstler erwarb Augustin Wilhelm Schnietz gegen Ende seines Lebens so viel Selbstvertrauen, dass er in Publikationen nicht mehr wie ein Patient unter Pseudonym genannt werden wollte, sondern auf seinen vollen Namen Wert legte.“
Auch Hartmut Krafts Ehefrau Maria Kraft sammelt Kunst – und zwar aus eigener Kraft. Allerdings kam der Impuls zu sammeln von der Begeisterung ihres Mannes. Maria Kraft war Allgemeinmedizinerin und arbeitet noch als Psychotherapeutin. Sie fragt: „Kann Kunst gesund machen, oder stabilisieren?“, und fügt hinzu: „Ich denke schon.“
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Die Ausstellung ist noch bis zum 14. Oktober in der Galerie im Park, Züricher Straße 40, zu sehen. Der Eintritt ist frei.