Es ist ein schöner Herbsttag, am Himmel über dem Einkaufszentrum Berliner Freiheit ziehen vereinzelte Wolken vorbei, dazwischen prangt deutlich sichtbar das Aalto-Hochhaus, das 21 Stockwerke hohe Wahrzeichen der Vahr. In eine Hochhaussiedlung wollte Katja Hüller zuerst nicht ziehen, erzählt sie, als sie am vereinbarten Treffpunkt zwischen Kaufhaus und Bürgerzentrum auftaucht. Die 61-Jährige war zu DDR-Zeiten in Halle an der Saale aufgewachsen und hatte auch dort in einem Hochhaus gewohnt. Obwohl sie gute Erinnerungen damit verband, hatte sie sich vor ihrem Umzug nach Bremen im November 1999 zuerst etwas anderes vorgestellt. Doch dann fand die gelernte Erzieherin für sich und ihre beiden Töchter ausgerechnet in der Neuen Vahr Süd eine günstige Wohnung. Als die Kinder flügge wurden, zog sie nur wenige Straßen weiter. "Sogar ins Hochhaus in der vierten Etage, wo ich nie hin wollte", sagt sie.
Jetzt ist ein Teil der Vahr ihr Kiez – seit 25 Jahren. "Meine Eltern stammten aus dem Westen, haben sich aber über die kommunistische Weltanschauung kennengelernt", erzählt Katja Hüller. Ihre Mutter wuchs im Teutoburger Wald auf. Für Hüller hat in der Vahr ein neues Leben begonnen, ihr Leben in Bremen.
"Viele haben ein ganz falsches Bild von der Vahr, sie fahren hier nur mit dem Auto vorbei", sagt Hüller. Was sie besonders an dem Stadtteil schätze, seien die vielen Grünflächen: "Der Sauerstoffpfad rund um den Vahrer See hat mehr Baumbestand als der Bürgerpark", erklärt Hüller. Wenig bekannt seien auch die Kunstwerke im öffentlichen Raum, zum Beispiel die Bronzeskulptur in Form eines Teddys, der rücklings auf einem Skateboard fährt, oder die Kreisel-Kunst mit bunten Paaren, die sich begegnen.

Kunst im öffentlichen Raum gibt es auch in der Vahr.
Am Eingang zum Park am Vahrer See unterbricht eine Lautsprecheransage das Gespräch. Vermutlich auch Kunst im öffentlichen Raum – akustisch allerdings, nur bleibt die Botschaft leider unverständlich. Auf der Brücke hält ein Mann mit Rollator kurz inne und dreht sich zu Katja Hüller um. "Sind Sie Frau Künast von den Grünen?", fragt er. "Nein, ich bin's nicht", sagt die 61-Jährige und lacht.
Als Hüller nach Bremen zog, fand sie zuerst keine Stelle als Erzieherin. Ende der 90er-Jahre sei noch kein Kita-Notstand gewesen. Aber Edeka suchte Mitarbeiter für ihre Filialen in Hastedt und Walle. "Ich dachte, bevor ich noch sozial absteige, mache ich das", erinnert sich die Wahlbremerin. So betreute sie eine Abteilung mit Büchern, Zeitschriften, Videos, DVDs, CDs und Software im Hansa Carré. Den Tipp, in die Vahr zu ziehen, gab ihr eine russische Kollegin. "Gott sei Dank habe ich es mir angeguckt, eine wunderschöne Wohnung", erinnert sie sich.

Katja Hüller an einem ihrer Lieblingsplätze im Park am Vahrer See.
Katja Hüller folgt dem Weg durch die Parkanlagen. Mit Blick auf den See stellt sie etwas enttäuscht fest, dass die Fontäne aus ist. Dafür lässt sich an der Stelle nun mit würdevollem Flügelschlag ein Graureiher nieder. "Manchmal sitzen hier auch Kormorane", erzählt Hüller. Innerhalb und außerhalb des Stadtteils sei sie viel mit dem Fahrrad unterwegs und betrachte die Natur. "Als ich gestern nicht schlafen konnte, bin ich mit dem Fahrrad nach Oberneuland gefahren und habe mir den Sonnenaufgang im Vogelschutzgebiet an den Wümmewiesen angeguckt." Auch nach Schwachhausen und zum Achterdieksee sei es nicht weit zu fahren. Momentan wirke der Vahrer See wie ein Naturidyll, doch manchmal müsse die Wohnungsbaugesellschaft Gewoba auch Einkaufswagen und anderen Unrat aus dem See fischen, sagt Hüller.
Aus einem weiteren Lautsprecher im Park erklingt ein kurzer Text. Er dreht sich darum, dass Demokratie kompliziert sei, weil sie keine einfachen Erklärungen liefere, sondern Aushandlungssache sei. "Es geht mir nicht in den Kopf, warum in Thüringen so viele rechts gewählt haben", sagt Hüller. "Oder dass Trump sagt, Haitianer würden Hunde von der Straße stehlen und essen."
Nach der Zeit bei Edeka war Katja Hüller zwei Jahre lang Verkäuferin bei Weltbild in der Obernstraße. 2002 ging sie wieder in den Erzieherberuf. Vermittelt über den Verband Bremer Kindergruppen, betreute sie im Viertel eine achtköpfige Gruppe. Das sei einfach gewesen im Vergleich zur DDR, wo sie meist um die 20 Kinder in ihrer Obhut hatte. Sie habe sich weiter fortgebildet und sei später über eine Zeitarbeitsfirma an die Kita Uni-Kids im Universum gelangt. Zurzeit ist sie wegen einer bevorstehenden Augenoperation für längere Zeit krankgeschrieben.

Wenn Katja Hüller auf ihrem Balkon sitzt, ist sie ganz für sich.
Hüller setzt sich auf ihren Lieblingsplatz mit Blick aufs Wasser, auf Büsche und Bäume sowie die Hochhäuser im Hintergrund. Die Mischung aus Neubauten und Grün gefalle ihr gut. Auf der Bank nebenan unterhalten sich kichernd drei Mädchen. Sie essen Chips, hantieren mit ihren Mobiltelefonen und haben eine Packung mit Haarspray oder Parfüm dabei.
Weiter geht es am Sauerstoffpfad zwischen Wohnblocks entlang. "Der Pfad zieht sich durch die ganze Vahr", erklärt Hüller. Auf kleinen Infotafeln wird erklärt, dass hier ein Amur-Korkbaum und ein Japanischer Schnurbaum gepflanzt wurden, der gelblich-weiße, bis zu 30 Zentimeter lange, rispenartige Trauben bilde.

”Mehr Baumbestand als im Bürgerpark”: der Sauerstoffpfad in der Vahr.
Hüller wohnt nahe der Paul-Singer-Schule. Sie will nicht ihre ganze Wohnung zeigen, wie es die Vahreporter Rolf und Erika Diehl bei einer Führung im Aalto-Hochhaus gemacht haben, an der sie kürzlich teilnahm. Aber sie zeigt den Balkon im vierten Stock, den sie sehr mag, weil sie von dort aus ins Grüne blickt und ganz für sich ist. Auf ihrem Balkon hängen unter anderem die Bremer Speckflagge, das Beck's-Schiff und eine Werder-Fahne. Sie sei lange kein Fußballfan gewesen – bis ihr Partner sie 2004 auf die Meisterfeier auf den Marktplatz mitgenommen und die Stimmung sie einfach mitgerissen habe. "Die Fahne habe ich gekauft, kurz bevor Werder der Abstieg drohte", erinnert sie sich.
Umso größer die Freude, als sie mitten beim Hafenfest in Vegesack vom gelungenen Wiederaufstieg in die erste Liga erfuhr. Überhaupt genieße sie die Vielfalt an Festen und Konzerten in der Weserstadt. Zuletzt verfolgte Katja Hüller beim Musikfest Bremen die finale Show mit der Hommage an Stevie Wonder. Auch "Licht und Musik am Holler See" besuche sie fast jedes Jahr.
In Katja Hüllers Kiez zwischen Berliner Freiheit, dem Vahrer See und nördlich der Richard-Boljahn-Allee, gebe es viele Einkaufsmöglichkeiten und ein enges Netz an Fachärzten. Für Familien werde viel geboten, im Bürgerzentrum und Familienzentrum gibt es Veranstaltungen, Frühstückstreffs und Nachbarschaftshilfen. Einmal im Jahr ist Vahrinale, ein großes Fest mit vielen Spielstationen für Kinder in den Grünflächen am Vahrer See. "Als ich arbeitslos war, habe ich mich bei den Vahrer Löwen gemeldet und mich um eine blinde Frau gekümmert. Wir haben viel zusammen unternommen."
Und ihr selbst habe es geholfen, gebraucht zu werden. Inzwischen ist sie ehrenamtlich im Allgemeinen Deutschen Fahrradclub (ADFC) aktiv. "Und wenn mir mal die Decke auf den Kopf fällt, gibt es einmal die Woche Abendessen im Bürgerzentrum. Während der EM haben wir da auch mal gegrillt und Fußball geguckt."