Michael Zander hat die Uhr genau im Blick. Es ist 10.33 Uhr und 50 Sekunden, als er von seinem Platz aufsteht und das kleine Fenster auf der rechten Seite öffnet. Er schaut hinaus und drückt anschließend auf einen Knopf. Die Türen der Regio-S-Bahn schließen sich. Um 10.34 Uhr und null Sekunden verlässt der Zug den Bremer Hauptbahnhof in Richtung Farge. Und damit pünktlich. Das war bisher nicht immer so.
Mitte April ist ein sechsmonatiges Pilotprojekt auf der Regio-S-Bahn-Linie 1 zwischen Farge und Verden gestartet. Um die Pünktlichkeit auf der Strecke zu erhöhen, fahren die Züge seitdem mit dem Zeigersprung, wie es die Nordwestbahn nennt. Bislang haben die Triebfahrzeugführer häufig so lange gewartet, bis auch die Fahrgäste eingestiegen sind, die eigentlich zu spät sind. Fahren die Bahnen auch nur wenige Sekunden verspätet ab, kann sich dieser Zeitverzug auf andere Züge übertragen. "Liegen die Bahnhöfe weit genug auseinander, ist es kein Problem, 30 Sekunden Verspätung wieder herauszufahren", sagt Steffen Högemann, Sprecher der Nordwestbahn. Da die Stationen auf der Regio-S-Bahn-Linie 1 aber sehr nah beieinanderliegen, können Verspätungen auf dieser Strecke praktisch gar nicht aufgeholt werden.
Kurz nachdem die Regio-S-Bahn den Hauptbahnhof verlassen hat, kündigt die freundliche Stimme im Zug schon den nächsten Halt in Walle an. Michael Zander erreicht die Station pünktlich um 10.37 Uhr. Da hier allerdings Ankunftszeit gleich Abfahrtszeit ist, kann er in Walle nicht auf die Sekunde genau abfahren. Den Bahnhof in Oslebshausen erreicht er aber trotzdem um 10.40 Uhr und damit ohne Verspätung.
Dass die Bahnen nun auf die Sekunde genau abfahren, bewertet der Triebfahrzeugführer grundsätzlich positiv. "Wenn der Zug pünktlich ist, profitieren davon nicht nur die Fahrgäste, sondern auch wir als Personal", sagt Zander. Für die Mitarbeiter gelten feste Pausenzeiten, die sie einhalten müssen. Hinzu kommt der Personalwechsel, der im laufenden Betrieb stattfindet. "Das ist schon anstrengend, wenn ich sechs Minuten Verspätung habe und weiß, dass ich eigentlich in einer Viertelstunde einen anderen Zug übernehmen muss", sagt er. Allerdings kann er die Vorgabe, zur Sekunde null abzufahren, auch nicht immer umsetzen. "Wenn viele Fahrgäste an einem Bahnhof ein- und aussteigen wollen, ist es praktisch nicht möglich, mit dem Zeigersprung abzufahren", schildert Zander.
Doch auch wenn nur wenig Fahrgäste unterwegs sind, können die Türen nicht immer bereits kurz vor der Abfahrtszeit geschlossen werden. "Wenn Fernverkehrszüge am späten Abend verspätet am Bremer Hauptbahnhof ankommen, warten wir natürlich, damit die Fahrgäste noch nach Hause kommen", erklärt Zander. "Gleiches gilt auch für die jeweils letzte Verbindung am Tag. Hier sind wir gesetzlich verpflichtet, Fahrgäste noch mitzunehmen."
Während Michael Zander die Zugtüren am Bahnhof Oslebshausen schließt, fällt ihm ein weiterer Punkt ein, der dafür spricht, pünktlich abzufahren. "Wenn wir auf Nachzügler warten, gehen die Türen immer wieder auf", schildert er. Gesteuert werden die Türen von der Bordtechnik, die durch das ständige Öffnen einen Dauerimpuls bekommt. Schließlich hat der Triebfahrzeugführer bereits den Knopf gedrückt, mit dem sich die Türen schließen sollen. "Jeder Zug hat einen eigenen Hauptrechner. Dadurch kommuniziert hier ganz viel Technik", sagt Zander. Gehen die Türen immer wieder auf und zu, führt das nicht nur zu Ausfällen, sondern auch zu einem höheren Verschleiß.
Die Laufzeit von sechs Monaten hat die Nordwestbahn ganz bewusst für das Pilotprojekt ausgewählt. "In diesem halben Jahr nehmen wir verschiedene Zeiten mit", sagt Steffen Högemann. "In der Ferienzeit zum Beispiel wird der Effekt wahrscheinlich geringer sein als im Berufsverkehr." Nach Ablauf der Testphase will das Osnabrücker Eisenbahnverkehrsunternehmen das Projekt auswerten und schauen, welche Auswirkungen es auf die Pünktlichkeit der Züge hat. Erste Erkenntnisse erwartet der Unternehmenssprecher bereits mit der Pünktlichkeitsstatistik für den Monat Mai.
Am Bahnhof Vegesack übernimmt ein Kollege den Zug und fährt ihn weiter nach Farge. Bevor Michael Zander den Führerstand verlässt, schaut er auf das Tablet, das ihn unter anderem auch über den Fahrplan informiert. Der Bildschirm zeigt eine Verspätung von einer Minute an. "Wir konnten nur mit einer Geschwindigkeit von 30 Stundenkilometern in den Bahnhof einfahren", erklärt Michael Zander. Trotz des Personalwechsels konnte sein Kollege die Abfahrt bereits um 11 Uhr und 50 Sekunden vorbereiten. Pünktlich um 11.01 Uhr und null Sekunden setzt der Zug seine Fahrt fort.