Anna Florstedt ist Dolmetscherin. Die Nordbremerin arbeitet für verschiedene Behörden in Bremen und kommt immer wieder mit Flüchtlingen zusammen. Sie hat viele kennengelernt, die sich über die Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft der Bremer freuen. In der Erstaufnahmestelle an der Lindenstraße 110 und in deren Zweigstelle, der Messehalle 6, herrsche jedoch Unmut bei Ukrainern. Die Menschen aus Osteuropa fühlen sich diskriminiert. Behörde und Wohlfahrtsverbände beteuern, alles gegen Ungleichbehandlung zu tun.
10 Uhr an einem Wochentag vor der Messehalle 6. Vier Frauen aus der Ukraine versammeln sich um Anna Florstedt und berichten von Ungerechtigkeiten. „Die Mitarbeiter seien voreingenommen“, übersetzt Dolmetscherin Anna Florstedt für alle. Ähnliche Beschwerden habe sie im Rahmen ihrer Übersetzertätigkeit auch schon von Armeniern, Georgiern und Russlanddeutschen gehört. Sehr viele Familien beschwerten sich. "Aber alle haben Angst, etwas zu sagen, weil sie dann fürchten, noch mehr benachteiligt und ins Zeltlager geschickt zu werden“, sagt die Nordbremerin.
Unterschiedliche Regeln?
Auf dem Weg aus dem Kriegsgebiet las Nathalia auf Telegram, dass sich Geflüchtete in Bremen in der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber und Flüchtlinge in Bremen-Nord melden sollten. Doch dort seien sie nicht willkommen geheißen worden: „Als wir ankamen, hieß es von den Mitarbeitern: ‚Hier kommen keine Ukrainer rein‘.“ Die Familie sei anschließend zwar aufgenommen worden, habe aber „dreckige und rissige“ Bettwäsche bekommen, obwohl, wie sie später erfuhr, auch ordentliche Bettwäsche vorhanden war.
„Die schlechte Behandlung spürte man auf jeden Schritt und Tritt“, so Nathalia, die ihren vollen Namen wie die anderen Frauen aus Angst vor Repressalien nicht nennen will. So gebe es unterschiedliche Regeln für verschiedene Nationalitäten. Sie nennt das Beispiel Maskenpflicht. Ukrainer würden nicht ohne FFP2-Maske in den Speisesaal gelassen, Frauen und Männer anderer Herkunftsländer schon.
Ungleiche Essensportionen?
Marina, ebenfalls aus der Ukraine geflüchtet, bestätigt, was Nathalia sagt. Sie berichtet, dass einige Gruppen beim Essen regelrecht begünstigt würden. Ihrem Freund hingegen sei der Nachschlag verwehrt worden.
Während einige Gruppen ihre Reste auf den Tischen stehen ließen, würden ukrainische Geflüchtete mittels Plakaten in ukrainischer Sprache angehalten, die Tische abzuräumen. Unzufriedenheit herrscht auch über das Essensangebot selbst. Es sei oft zu scharf. „Es wäre schön für die Kinder, wenn sie mal Schweinefleisch bekämen oder morgens warmen Brei und nicht nur Brot“, sagt Irina.
Fehlende Beratung und Betreuung?
Einige Mütter wie Irina und Nathalia fragen sich auch, wann ihre Kinder zur Schule gehen könnten. Es gebe zwar Willkommensklassen, aber viele Kinder seien noch unversorgt.
Nach Darstellung der Frauen fehlt es zudem an Beratungsangeboten. „Mein Mann ist Lkw-Fahrer, er würde gern arbeiten, er hat auch schon mehrere Jobangebote, aber niemand hilft ihm, seinen Führerschein zu bestätigen“, berichtet Nathalia. „Wir bekommen keine Infos, wie es weitergeht. Es heißt immer nur, wir sollen warten.“
Beschwerden teilweise bekannt
„Die Mitarbeitenden der Awo Bremen in der EAE behandeln alle Menschen gleich“, betont Anke Wiebersiek, Sprecherin der Awo. Sie kennt Beschwerden über zu scharf gewürztes Essen. „Vermutlich werden einige Erwartungen enttäuscht, was die Versorgung angeht; dies ist bedauerlich, jedoch ist das offenbar auch der Tatsache geschuldet, dass es viele unterschiedliche Nationalitäten in der Einrichtung gibt, und versucht wird, vielen Ansprüchen gerecht zu werden.“ Es würden jedoch bereits Gespräche mit dem Essensversorger geführt, um die Wünsche zu berücksichtigen. Anke Wiebersiek bestreitet jedoch, dass es ungleiche Portionen gibt. "Und auf Nachfrage gibt es einen Nachschlag.“
Im gesamten Haus gilt laut Anke Wiebersiek eine FFP2-Maskenpflicht. Keinesfalls würden beim Tragen oder Nicht-Tragen von FFP2-Masken bestimmte Nationalitäten bevorzugt – „und es gibt keine unterschiedlichen Regeln für Menschen verschiedener Herkunft – auch nicht beim Thema Mülltrennung oder -entsorgung.“
Konflikte in Einzelfällen
Auch in der vom Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) geführten Messehalle 6 würde Diskriminierung nicht geduldet, betont der Sprecher der Sozialbehörde, Bernd Schneider. Das Team in der Messehalle 6 sei multinational, um aufkommende Animositäten zwischen Bewohnern früh zu erkennen und gegebenenfalls gegenzusteuern. „Nach deren Beobachtungen gibt es immer wieder mal Konflikte in Einzelfällen, aber keine ‚Lager‘.“
Kein Schulplatz für 300 Kinder
Um den drastisch steigenden Schülerzahlen aus der Ukraine gerecht zu werden, hat Bremen im Frühjahr eine Willkommensschule am Standort Ohlenhof für 130 Kinder eingerichtet. Nach den Sommerferien, betont Maike Wiedwald als Sprecherin des Bildungsressorts, werde es eine weitere Willkommensschule an der Stresemannstraße geben. Trotzdem bleiben Kinder von ukrainischen Geflüchteten ohne Angebot. "Wir haben für 300 Kinder keinen Platz. Sie sollen aber auf jeden Fall einen bekommen."
Anke Wiebersiek von der Awo weist darauf hin, dass in der Erstaufnahmeeinrichtung viele Angebote für Kinder in Ehrenamtsprojekten gemacht würden. „Diese Angebote werden allerdings nur selten von ukrainischen Familien wahrgenommen.“ Auch die Kritik an fehlender Beratung zu Sozialleistungen, Aufenthalt und anderen Themen lassen Awo und Sozialbehörde nicht gelten. Bernd Schneider versichert: „Alle Bremer Behörden haben alle Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner für Menschen aus der Ukraine, auf Webseiten gibt es sehr häufig Informationen in ukrainischer Sprache.