Jeden Freitag, immer nachmittags – dieser Termin ist gesetzt. Da kann kommen, was will. Hildtrud Hahn muss dann zum Singen. In den Saal der Kirchengemeinde Alt-Aumund, wo die anderen nur selten auf sie warten müssen. Hahn steht bei den Oberstimmen in der ersten Reihe. Sie ist Sopranistin und deshalb, wenn man so will, so etwas wie das Gesicht des Chores. Seit 55 Jahren.
Es gibt nicht viele Sängerinnen und Sänger, die haben, was Hahn hat. Vier Chornadeln liegen auf dem Tisch. Den ersten Anstecker musste sie sich noch selbst kaufen. Die anderen bekam sie für zehn, 25 und 40 Jahre Mitgliedschaft. Die neueste Nadel trägt die Nordbremerin am Halsausschnitt ihres Pullovers. Sie glänzt golden. Eine 50 ist eingraviert. Im Chor sind es eine Handvoll, die auch so eine Auszeichnung vom Verband bekamen. Aber keiner von ihnen ist so lange dabei wie sie. Die Seniorin sagt, inzwischen die Dienstälteste bei der Chorgemeinschaft Aumund-Vegesack zu sein. Und auch die Älteste.
Hildtrud Hahn ist 83, aber so energiegeladen wie jemand, der gleich zum nächsten Auftritt muss. Immer wieder gehen ihre Arme hoch, immer wieder zeigen ihre Hände mal hierhin, mal dorthin. Zu den Fotos, auf denen ihre Enkel zu sehen sind. Zum Album, das ihren Mann zeigt. Zu einer blauen Mappe, die ihre Liedermappe ist. Und zu einem vergilbten Zeitungsartikel: "Fröhliches Sängertreffen mit Konzert in der Strandlust", steht in der Überschrift. Daneben ist eine Schwarz-Weiß-Aufnahme. Mehrere Frauen stehen in einer Reihe. Hahn ist die Dritte von links. Sie sagt, schrecklich aufgeregt gewesen zu sein.
Der Auftritt im Hotel an der Weser war ihr erster. Und sie damals 28. Das Datum, an dem Hildtrud Hahn zur Sopranistin wurde, kommt aus ihrem Mund wie aus der Pistole geschossen: 30. Mai 1967. Sie sagt, dass Singen ihr schon immer gefallen hat. Dass mehrere Tanten von ihr mitmachten. Und dass seinerzeit Stimmen für einen Chor gesucht wurden, den es so noch nicht gab: für den Aumunder Frauenchor. So steht es auf ihrer ersten Nadel. Und auch auf der zweiten. Dann wurde aus dem Frauenchor ein gemischter Chor: die Chorgemeinschaft Aumund-Vegesack.
Manche Gebäude, in denen sie aufgetreten ist und geprobt hat, gibt es gar nicht mehr. Andere stehen zwar noch, werden aber anders genutzt. Zum Beispiel der Norddeutsche Hof an der Weserstraße. Zum Beispiel das Gewerkschaftshaus in Fähr-Lobbendorf. Zum Beispiel die Mädchenschule an der Kirchheide. Hahn erzählt von Auftritten in Hamburg und Berlin. Von Konzerten in der Glocke und der Liebfrauenkirche. Von Gastspielen im Gustav-Heinemann-Bürgerhaus und immer wieder in der Strandlust. Und davon, dass sie früher mehr als 80 Mitglieder waren und jetzt noch an die 20 sind, die regelmäßig zum Üben kommen.
Die Disziplin bei den Proben, meint Hahn, ist geblieben. Genauso wie der Wille, es so gut wie möglich zu machen. Ist der Chorleiter nicht zufrieden, dann bricht er ab und geht alles von vorne los. Bis der Text und jede Stimme sitzen. Bei Auftritten wird nur gesungen, was bei den Proben hundertprozentig geklappt hat. So haben es ihr zufolge alle gehalten, die den Chor dirigiert haben. Die Sopranistin hat so viele Chefs erlebt, dass sie erst überlegen muss, wer wann kam: Vier waren es. Einer hieß Peter Krause, ein anderer Klaus Nelhiebel. Jetzt führt Wilhelm Torkel den Taktstock.
Hahn sagt, was viele sagen, wenn es ums Singen geht: Dass die Gemeinschaft mit ein Grund ist, dass sie im Chor ist. Und die Geselligkeit ein weiterer. Sie sagt aber auch, was andere nicht sagen: Etwa, dass der Chor, auch wenn er nur ein Hobby ist, Vorrang hat. Manchmal auch vor der Familie. Die Vegesackerin fährt nur in den Urlaub, wenn weder Proben noch Auftritte sind. Und fällt ein Übungstermin auf den eines Geburtstages, dann schlägt sie die Feier aus. Ihre Tochter und ihr Sohn, erklärt die Sängerin, kennen das schon: Mutter bringt das Geschenk einen Tag später.
Die Reihenfolge hat einen simplen Grund: Nur wenn Hildtrud Hahn oft genug proben konnte, will sie auch auftreten. So ernst nimmt sie das Singen, das nach ihren Worten so viel Spaß macht. Dabei machen ihr manche Lieder nach eigenem Bekunden mittlerweile keinen mehr. Fast vierzig sind in ihrer blauen Mappe. Die Sängerin blättert sie durch und stoppt am Ende nur bei denen, die sie schön findet. Es sind fast alle. Und fast alle kennt sie inzwischen auswendig. Bis auf die neuen ganz hinten, die zurzeit geprobt werden – nächsten Freitag wieder.